[rak-list] Re: Rezension von Frau Wiesenmüller zur RDA-Übersetzung

Thomas Berger ThB at Gymel.com
Fre Jan 10 12:08:35 CET 2014


-----BEGIN PGP SIGNED MESSAGE-----
Hash: SHA1

Lieber Herr Stephan, liebe Liste,

> Sie sollten nicht allzu schlecht von uns langweiligen und rückwärtsgewandten
> Bibliothekaren denken. Ich bin wirklich der Letzte, der Entwicklungen im Bereich

Hatte ich den Eindruck erweckt? Grundsaetzlich habe ich eine recht gute
Meinung von "Bibliothekaren", aber ich muss das ja nicht in jeder
Diskussion direkt zugeben. Bezueglich der Untergruppe der "langweiligen
und rueckwaertsgewandten" Bibliothekare kann ich wenig sagen, vermutlich
gibt es sie, ich habe damit aber vermutlich weniger persoenliche
Erfahrung als die meisten Listenteilnehmer hier...


> Ich gehöre allerdings nicht zu denjenigen, die sich dem Credo verschrieben
> haben, dass man mit hinreichender Technik alles irgendwie finden kann. Die
> Erfahrung hindert mich daran, mich zu diesem Credo zu bekehren.

mit genuegend Aufwand kann man sogar ganz ohne Technik definitiv
alles finden.

Das von Ihnen abgelehnte Credo duerfte im Uebrigen dem Zettelkatalog
als Technologie in seiner Zeit als Selbstverstaendnis durchaus nicht
fremd gewesen sein...


> Ich bin vielmehr der Überzeugung, dass man ein Retrievalwerkzeug wie jedes
> Werkzeug möglichst gut kennen und beherrschen muss, um damit effizient umgehen
> zu können. Damit dieses Kennen überhaupt möglich wird, muss nachvollziehbar
> sein, was es wie tut. Das - für den Bereich von Bibliothekskatalogen -
> niederzuschreiben, ist für mein Dafürhalten eine bibliothekarische Kernaufgabe.

Die ethischen Aspekte dabei sind in den letzten ein, zwei Jahren
thematisiert worden. Ausgehend von Ueberlegungen, ob die automatischen
Praeferenzerkennungen von Google & Co. bei Recherchen nicht schon
bald dazu fuehren werden, dass den Benutzern immer weiter auseinander
klaffende Weltsichten praesentiert werden (als Benutzer mit "christlichen
Werten" im angelsaechsischem Sinn dann etwa nur noch Ergebnisse ohne
Bezug zu Homosexualitaet, Abtreibung und Frauenwahlrecht) ist ja
bereits gefragt worden, ob bibliothekarische Suchmaschinen ueberhaupt
ranken duerfen, bzw. wie Transparenz dabei hergestellt werden kann.

Aus meiner persoenlichen Erfahrung kann ich allerdings sagen, dass
ich mich in VIAF ueberhaupt nicht zurechtfinden wuerde, wenn dort
nicht ein halbwegs gescheites Ranking am Werke waere. Und gewiss
wird daran kontinuierlich etwas verbessert. Ich bin kein Suchmaschinen-
spezialist, kann mir aber eigentlich nur vorstellen, dass dafuer
gewisse Parameter einer Standard-Volltextsuch-Library "getuned"
werden, ich wuesste aber nicht, wie man das "transparent" machen
kann: Aus Gruenden, die mit dem Datenbestand zu tun haben, wird
vielleicht etwas mit "Hermann" einen Tick weit benachteiligt
gegenueber "Herbert" und "Helmut", aber wer kann das schon so genau
sagen. Und da es immer einen Benutzer gibt, der nach dem neunten
oder neunzigsten Ergebnis aufhoert die Liste zu lesen, obwohl genau
das naechste Item der Treffer gewesen waere, der ihn interessiert,
ist der Unterschied manchmal ein entscheidender.

D.h. wir muessen als Profession klaeren, welche besonderen Anforderungen
an Barrierefreiheit (dazu gehoert inzwischen auch "einfache Sprache"
als alternativer Kanal), Neutralitaet und Transparenz wir an uns stellen,
/und/ was das konkret bedeutet. Aber auch das ist ein Prozess. Auch
hier koennen wir nicht aufgrund einer Momentaufnahme plausibel
erscheinende Regeln aufstellen und so fuer die naechsten Jahrzehnte
einer Diskussion oder Veraenderung ausweichen. D.h. Regelungsbedarf
ist durchaus gegeben, das Katalogregelwerk kann aber kein Vehikel
dafuer sein, nur Weichen stellen.


> Ein Regelwerk ist natürlich kein statisches Produkt. Selbstverständlich muss es
> Entwicklungen berücksichtigen und sich selber weiter entwickeln. (Gelegentlich
> werden die für nötig erachteten Entwicklungsschritte sogar so groß, dass man es
> für angebracht hält, ein ganz neues Regelwerk zu kreieren. Geschichtlich neu am
> RDA-Einführungsprozess ist allerdings, dass es bei der Entscheidung für RDA
> gerade nicht um den Aspekt der RegelwerksWEITERentwicklung ging, die
> Regelwerksweiterentwicklung wurde ja sogar zugunsten des
> RDA-Entscheidungsprozesses für mehr als ein Jahrzehnt ausgesetzt, sondern um das
> Paradigma Internationalisierung.)

Nach der Entscheidung fuer AACR2 den Schwenk auf die RDA mitzuvollziehen war
wohl nur folgerichtig. Und einer der Gruende fuer die Entscheidung war, dass
fuer den nicht unbedingt besonders kleinen Bereich D-A-ohne-CH die eigene
Regelwerkspflege nicht mehr leistbar war, insofern ist es auch muessig
darueber zu spekulierenn, ob die schon damals am Reformstau erstickenden
RAK eine bessere Ausgangsplattform fuer den Grossen Wurf eines modernen
Regelwerks gewesen waeren.

Womit m.E. niemand gerechnet hat war, wie gross die impliziten Unterschiede
der beiden Regelwerkswelten wirklich waren: Oberflaechlich gesehen waren
ja in RAK und AACR2 die "ueblichen" Elemente alle vorhanden, etwa das
Staatsbuergerprinzip bei Personen, die Rule-of-three, Normierungsregeln
fuer Verlage und Erscheinungsorte etc. pp. Und dass gewisse Details dann
voneinander abweichen, wurde als unproblematisch erachtet. Aber dass
"Internationalisierung" nach Anglo-Amerikanischem Verstaendnis etwas
ganz anderes bedeutet als bei uns, und von welchen /Anspruechen/ wir
uns daher verabschieden muessen, ist - behaupte ich - immer noch nicht
in seiner vollen Tragweite erfasst, obwohl es inzwischen mehrere
Personen hierzulande gibt, die sich in Teilbereiche ganz intensiv
eingearbeitet haben.


> Deshalb ärgert es mich ja auch so, dass es in RDA noch etliche Relikte gibt, die
> eindeutig aus der Zeit des Kartenkataloges stammen (weil die AACR chronologisch
> dem Kartenkatalog deutlich näher standen als die RAK) und in einer EDV-Umgebung
> einfach nichts mehr verloren haben. Mindestens das hätte man in einem NEUEN
> Regelwerk doch gerne anders gesehen. Über die Details der EDV-Umgebung brauchen
> wir an dieser Stelle noch gar nicht zu reden.

Wir erleben da einen "Kulturschock", den wir auch beim urspruenglichen
Ziel des Umstiegs auf AACR2 in genau dieser Form erlebt haetten. Es ist
bitter zu sehen, dass AACR2-Zoepfe kaum abgeschnitten werden (um deren
Anwendern dem Umstieg zu versuessen bzw. die Brauchbarkeit deren Altdaten
zu erhoehen), aber auch bei einer radikaleren Neuausrichtung bliebe uns
das Trauma der Umtopfung in eine fremde Katalogisierungstradition kaum
erspart. Aber - so kann man es sehen - die eigentliche Modernisierung
ist im neuen Regelwerk zwar methodisch angelegt, aber noch nicht unbedingt
realisiert, da wird noch einiges auf uns zu kommen, wenn die innere
Entwicklung der RDA Fahrt aufnimmt, also begleitend zur Ueberwindung
von MARC21...



> "Du findest, was Du suchst. Und nur das. Und das ganz."

:-)


viele Gruesse
Tohmas berger
-----BEGIN PGP SIGNATURE-----
Version: GnuPG v1
Comment: Using GnuPG with Thunderbird - http://www.enigmail.net/

iJwEAQECAAYFAlLP1LMACgkQYhMlmJ6W47PZrgQAkM55OkcH8wpYy9biDj8FtrKW
i2sKGSAR93baSpKgiI8qDkBUbFWPJkW1zgLoP5y4TLuVPeptk2HeecVIj7PkQFvH
sF22Ip6iyG2wSbxtKLvLBJF2SXDK1C+FvZAvLMN8Qm4cbuQX6uL/pSL6Nm/cgctN
Sv7zOpeOLyQZWqRulF4=
=QvRL
-----END PGP SIGNATURE-----