[rak-list] Re: Rezension von Frau Wiesenmüller zur RDA-Übersetzung

Thomas Berger ThB at Gymel.com
Fre Jan 10 10:36:59 CET 2014


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Lieber Herr Eversberg,

> Heißt das, Sie plädieren für Wischiwaschi-Ansetzungen, weil man
> die besser intuitiv erraten kann? Oder was genau schlagen Sie
> konstruktiv vor?

Die Eindeutigkeit von Ansetzungen im Sinne von "zwei Katalogisierer
kommen zum gleichen Resultat" ist nur vor dem Hintergrund
gleicher Information der Ansetzenden gegeben, eine nicht
realistische Annahme.

Die Eindeutigkeit von Ansetzungen im Sinne von "zwei Personen
bekommen niemals dieselbe Zeichenkette" ist durch die Regelwerke
nicht einmal gegeben, Frau Wiesenmueller hat auf der RDA-Liste
dazu schon einige Anlaeufe gemacht. Der Knackpunkt dabei ist
m.E., dass die Regeln so formuliert sind, dass das fuer einen
gegebenen Katalog zu einem gegebenen Zeitpunkt logisch ist,
aber bereits fuer eine Normdatei wie die GND ist nicht mehr
klar, wie da die Anforderung sein muesste und wie das als
Regel zu formulieren waere: Niemand ueberblickt zukuenftige
Nutzungen "seiner" Ansetzung an anderen Orten.

Der Kontext von Ansetzungen wird stets eine mit Altdaten
kontaminierte Landschaft sein, die letzten 8 Jahre hatten wir hier
die Regel, in der GND, hilfsweise den LC NAF gefundene Ansetzungen
/unhinterfragt/ zu uebernehmen und erst dann selber Ansetzungen
zu stricken, wenn man wirklich nichts anderes gefunden hat.

Ansetzungen sind eine Kruecke, da sie Information in eine
zwar geregelte, aber letztendlich willkuerliche Reihenfolge
bringen. Auch im Zusammenhang mit den RDA ist bereits andiskutiert
worden, dass "Anreicherung zuerst mit Lebensdaten, dann evtl. mit
Beruf" (unsere RAK-Praxis) bei Peter Mueller an Grenzen stoesst,
da ist jedes Jahr einer geboren, aber Tibetologen dieses Namens
gibt es nur einmal pro Jahrhundert: Daher weiss ich vom relevanten
Personal meines Fachs typischerweise auch nicht die exakten
Geburtsjahre und muss fuer die Identifikation eine lange Liste
durchackern. Der umgekehrte Ansatz (etwa der RSWK), zuerst die
Taetigkeit anzugeben, dann die Daten, ist auch problematisch:
Erst einmal kommt da ein (Proto-)thesaurus ins Spiel, und wenn
ich einen "sortenreinen" Katalog etwa mathematischer Werke habe,
bringen mich die Pleonasmen nicht wirklich weiter. Ich denke
das beweist, dass es keine universellen Ansetzungsregeln geben
kann, die in jedem Nutzungszusammenhang optimal sind
["Ansetzungen" sind uebrigens ein optionales Element in den
RDA, fundamental und nicht verhandelbar hingegen ist dort die
Ermittlung und Erfassung der fuer die Disambiguierung erforderlichen
Information als /Daten/. Leider ist das alles so passgenau geschneidert,
dass im Regelfall exakt die AACR2-Ansetzungen herauspurzeln koennen,
daher gibt es auch in den RDA bibliothekstypische Verhinderungsregeln,
die dafuer sorgen sollen, dass nicht ein Zuviel an erfasster Information
das traditionelle Ergebnis "verfaelscht". Ebenfalls leider hat
man ohne Not fuer den D-A-CH-Bereich beschlossen, die RDA in
der Variante "mit Ansetzungen" zu implementieren, obwohl wir ja
mit der PND ein ueberzeugendes Beispiel dafuer implementiert hatten,
dass es auch mit "Daten" statt "Ansetzungen" geht]

Problem am Rande: Bereits der eigentliche Name als Datenelement
(was eher dem entspricht, was wir nach RAK als Ansetzung bezeichneten)
wird in den RDA fuer einige Personengruppen so rabiat "normiert",
dass das meiste gesagte auch dafuer gilt.

Ich persoenlich lese aus Ansetzungsregeln einen impliziten Anspruch
auf "Wahrheit" heraus: Genau eine vollstaendige Namensform ist
ermittelbar, genau eine gebraeuchlichste Namensform, genau ein
Geburts- oder Todesjahr ist von allen Biographen anerkannt etc.:
In den Daten koennen wir mit diesen Unschaerfen leben (technische
Verfahren dazu sind wenig entwickelt, auch ausserhalb der
Bibliothekswelt), fuer Ansetzungen hingegen braucht man wiederum
monstroese Zusatzregeln, damit einerseits etwas nicht wirklich
falsches aber andererseits noch lesbares codiert werden kann.

Bereits gestern geaeussert: Je komplexer die Regeln, umso mehr
werden Ansetzungen zu einer eigenen Kunstsprache, die dann
immer staerker ausschliesslich durch Stichwortsuchen zugaenglich
ist. Praesentation von Ergebnissen in einer fuer den aktuellen
Recherchekontext nuetzlichen Ordnung und Gliederung wird
durch Ansetzungen tendenziell eher beeintraechtigt (ich brauche
dafuer die Datenelemente, habe aber keine Moeglichkeit, die
Pleonasmen zu bereinigen die dadurch enstehen, dass deren
Inhalt vielleicht in der Ansetzung enthalten ist, vielleicht
aber auch nicht), es sei denn, alle sortieren ungeachtet des
Kontextes immer und ueberall strikt "nach Ansetzung", was
im Hinblick auf das vorhandene Potential bereits heute sehr
rueckschrittlich anmutet.

Wenn Sie es also so nennen wollen, bin ich fuer Wischi-Waschi:
Es geht darum, Entitaeten zu /benennen/, zentral dafuer ist
/ein/ Name dafuer, disambiguierende Zusatzinformation, die
gleichzeitig transportiert wird, ist auch wichtig. Das wird
aber m.E. bereits von "der Maler van Gogh" geleistet, zumindest
in den meisten Kontexten. Und da Ansetzungen wie von mir
dargelegt keine kontextunabhaengige und universelle Perfektion
erreichen koennen, sollte man dem Regelwerk nicht durchgehen
lassen, tonnenweise ultrakomplexe Regeln hierfuer aufzustellen,
die nur dieses nicht erreichbare Ziel motiviert werden.



> Mit den heutigen ALL-Zugriffen über den Einwurfschlitz kombinieren
> wir doch längst beides, ohne noch irgendeinen Versuch, dem Endnutzer
> die Hinter- und Abgründe klarzumachen. Einen richtig guten Dienst
> tun wir damit aber nicht, eine richtige Profession sollte darüber
> hinausgehen können. Schaffen wir nicht, da haben Sie recht.

Das liegt aber nicht daran, dass wir dumm sind und "die Informatiker"
ach so schlau, sondern daran, dass es um technische Entwicklungen
geht, die ueberdies nicht in Stufen ablaufen sondern sich in
staendigem Fluss befinden. Daher sollten wir nicht versuchen, im
Rahmen der Regelwerke auch noch technische Verfahren festzulegen:
Der Preis fuer die dadurch erhoffte staerkere Einheitlichkeit des
Rechercheerlebnisses ist einfach zu hoch!


>> Und bei der known-item-
>> search (gerne ueber Titelstichworte)
> Auch das machen wir ständig, stillschweigend davon ausgehend, daß
> wir die richtige Schreibweise wissen. Gerade für die Behandlung der
> Titelstichwörter brauchen wir Indexierungsregeln, wie es die zitierte
> KOBV-Studie vorgeschlagen hat. Und auch damit ist nicht alles
> erschlagen.  Schauen Sie mal als Beispiel, wie viele Einträge Sie unter
> "selbstständig?" bzw. "selbständig?"  finden, oder unter "demograf?"
> bzw. "demograph?" oder sonst was mit "graph" bzw. "graf?" oder
> "...potenzial?" bzw. "...potential?". Marginalitäten? (Und das
> ist jetzt kein Argument für Indexierungsregeln, sondern gegen die
> Verläßlichkeit des Stichwortzugriffs.)

Das Dokument von 2004 ist eine Art Best Current Practice fuer Aleph-
Systeme mit MAB-Daten innerhalb eines bestimmten Regionalverbundes
(also der Domaene einer bestimmten, redaktionell verklammerten
Anwendung von RAK). Natuerlich sind die meisten Regeln dort
Binsenweisheiten fuer den Umgang von im Deutschen Sprachraum
enstandenen Daten im Hinblick auf auch auslaendische Benutzer
(etwa: Umlaute muessen sowohl aufgeloest als auch auf den Grundbuchstaben
reduziert /suchbar/ sein. Warum das fuer die "ungarischen" Vokale
mit Doppelakut nur eingeschraenkt gefordert wird, weiss vermutlich
niemand mehr). Ich sehe eine gewisse Notwendigkeit, auch solche
Selbstverstaendlichkeiten aufzulisten, damit einem die Hersteller
von Bibliothekssystemen nicht unbrauchbaren Schrott unterjubeln,
aber der Ort dafuer sind DIN-Normen und definitiv nicht bibliothekarische
Regelwerke.



>> Aber zurueck zum Thema: Wenn ich vorhin "eindimensional" gedacht
>> habe, wie Sie mir vorwarfen, dann lag es daran, dass ich zugegebener-
>> massen dem FISO-Ansatz zu sehr verhaftet bin, und /nur/ Dinge
>> im Sinn hatte, die als known-item-search in einem leicht erweiterten
>> Sinn anzusehen sind. Und auch dort - ich wiederhole mich - laufen
>> Ansetzungen und Indexierungsregeln Gefahr, Teil des Problems
>> zu werden, zu dessen Abschaffung sie angetreten sind.
>>
> Also keine Indexierungsregeln, basta? Oder andere? Werden Sie mal
> konkret und konstruktiv.

Definitiv keine Indexierungsregeln und auch nichts verwandtes: Ein
Regelwerk sollte (vgl. etwa die "Content Standards" von Museen
oder Archiven) vor allem die intellektuellen Prozesse klaeren, die
beim Ueberfuehren von Information in Daten (mal ganz salopp gesagt
weil ich weiss, dass Herr Umstaetter hier nicht mitliest) fuer
unseren Bereich wichtig sind. Hier ist es moeglich und auch
angebracht, das international einheitlich hinzubekommen, man
muss sich nur hueten, irgendeine Vollstaendigkeit der Modellierung
zu behaupten, insbesondere in den Faellen, wo man mit anderen
Domaenen (Archivalien, Kunstobjekte, Musikalien, ...) ueberlappt.

Anders als andere Domaenen legen bibliothekarische Regelwerke
traditionell auch in vielen Faellen eine Erfassungssyntax fest,
damit meine ich ausnahmsweise nicht ISBD-Interpunktion, sondern
"Ansetzungen". Das ist auch aus heutiger Sicht nicht voellig
abwegig, immerhin haben wir mit Verfielfaeltigungsstuecken oder
universell abrufbaren e-Ressourcen zu tun, und gluecklicherweise
gibt es eine voellig fragmentierte Produzentenlandschaft und nicht
nur Sony, BMG und Apple. Voellige Internationalisierung ist m.E.
hierbei aber nicht moeglich und auch nicht wuenschenswert.

Diese Schichten legen die Grundlage dafuer, dass wir Daten haben,
mit denen wir gewisse Zwecke dann auch realisieren /koennen/.
Diese Zwecke sollten als "Fundamental Requirements ..." durchaus
fuer sich formuliert werden. Die dann noch noetigen Vorschriften,
die dafuer sorgen, dass unsere jeweiligen Systeme (vom Bibliotheks-
verbund ueber ein Computerprogramm bis hinunter zur Schreibmaschine)
diese Anforderungen dann auch tatsaechlich /leisten/, gehoeren
definitiv nicht in ein Katalogisierungsregelwerk.

viele Gruesse
Thomas Berger

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