[rak-list] Übersetzung der FRBR-Termini "expression" und "manifestation"
Kurt.Pages at fh-hannover.de
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Mon Jul 10 15:29:46 CEST 2006
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
leider gibt es immer noch keine autorisierte deutsche Übersetzung der
FRBR. Meines Erachtens besonders problematisch ist weiterhin die
Übersetzung von zwei der vier Entitäten der ersten Gruppe der FRBR:
"expression" und "manifestation"".
In der ersten deutschen Übersetzung des "Statement of international
cataloguing principles" wurden zunächst (Stand 19.12.2003) einfach die
englischen Begriffe quasi als Fremdwörter verwendet, was m. E. der zweiten
Zielsetzung "Allgemeine Gebräuchlichkeit" der Katalogisierungsprinzipien
(vgl. Anhang zum Statement, Aufzählungspunkt 2) eindeutig widersprach:
diese Begriffe waren für das, was sie darstellen sollen, sicherlich nicht
gebräuchlich und wurden daher zu Recht verworfen.
Seit der Einarbeitung der abgestimmten Veränderungen des 2. und 3. IME
ICC (Stand September 2005 und April 2006) werden die Begriffe
"expression" mit "Fassung" und "manifestation" mit "Erscheinungsform"
übersetzt.
Insbesondere die Übersetzung "Fassung" für "expression" sollte noch
einmal diskutiert werden. Der Begriff "Fassung" wird im Bereich der Musik
sowohl in Nutzerkreisen (Musiker, Musikwissenschaftler etc.) als auch in
den RAK-Musik und bei ihren Anwendern als Fachterminus für eine
Bearbeitung eines Musikwerkes durch den Komponisten selbst (=
"Bearbeitung von eigener Hand") verwendet. Im Gegensatz dazu wird eine
Bearbeitung eines Musikwerkes durch eine andere Person als den
Komponisten als "Arrangement" bezeichnet.
Im Sinne der FRBR sind beide Formen der Bearbeitung "expressions" der
jeweiligen "works".
Beispiel 1:
Die Bearbeitung der Klaviersonate op. 14,1 von Beethoven zu einem
Streichquartett durch den Komponisten selbst wird als "Fassung"
bezeichnet, in den RAK-Musik wird dieser Terminus sogar für die Bildung
des Einheitssachtitels verwendet: "Sonaten, Kl, op. 14,1. Fassung Vl 1 2 Va
Vc".
Im Sinne der FRBR ist die Sonate op. 14,1 ein "work" als abstrakte Entität,
die Klavier- wie die Streichquartettfassung sind "expressions" von diesem
"work". Dieses "realisiert" sich u. a. in diesen beiden vom Komponisten
stammenden Fassungen (vgl. den Sprachgebrauch der FRBR: "A work is an
abstract entity; there is no single material object one can point to as the
work. We recognize the work through individual realizations or expressions
of the work, ...").
Beispiel 2:
Die Bearbeitung (Uminstrumentierung) des Klavierzyklus "Bilder einer
Ausstellung" von Modest Musorgskij zu einem Werk für großes
Sinfonieorchester durch Maurice Ravel wird hingegen als "Arrangement"
bezeichnet.
"work" ist wiederum der Zyklus als abstrakte Entität, die Klavierfassung des
Komponisten wie die Uminstrumentierung des Bearbeiters sind
"expressions" von diesem "work".
Fatal ist m. E., wenn man als Übersetzung des FRBR-Terminus
"expression" hier den Terminus "Fassung" verwendet:
Beisp. 1:
Die Fassung für Streichquartett ist eine "Fassung" des "Werks" Sonate op.
14,1. (Übersetzung der FRBR-Termini in "...")
Beisp. 2:
Das Arrangement für großes Orchester ist eine weitere "Fassung" des
"Werks" Bilder einer Ausstellung, stammt jedoch nicht vom ursprünglichen
Komponisten selbst. (Übersetzung der FRBR-Termini in "...")
Bei der Verwendung von "Fassung" wird es bei Nutzern mit Sicherheit
Irritationen geben, weil bei den "Fremdbearbeitungen" dieser Terminus nach
dem üblichen Sprachgebrauch der Nutzergruppe falsch ist.
Da auch die FRBR bei der Erläuterung des Terminus "work" von
"realizations or expressions" sprechen (s. o.), scheint mir die Übersetzung
"Realisation" für "expression" wesentlich günstiger. Er drückt genau das aus,
was in einer "expression" mit dem "work" geschieht: eine Verdinglichung - zu
einer Sache (= lateinisch: res) werden - einer ansonsten absolut abstrakten
Entität. Für den Bereich der Musik ist der Begriff "Realisation" als
Fachterminus im Gegensatz zu "Fassung" meines Wissens nicht belegt, in
der Umgangssprache ist er für das, was die FRBR mit "expression"
bezeichnen, einleuchtend und verständlich.
Im Übrigen fällt auf, dass die FRBR das Wort "realization" verwenden, wenn
beschrieben werden soll, was eigentlich passiert, wenn das abstrakte "work"
sich in einer "expression" materialisiert.
Da das sicherlich auch den Übersetzern aufgefallen sein wird: gab es bei
der Wahl von "Fassung" Argumente, die gegen eine Verwendung von
"Realisation" sprachen?
Fazit: Man kann m. E. keinen Spezialterminus, der nur für eine genau
definierte Teilmenge steht, gleichzeitig auch als Terminus für eine
Gesamtmenge verwenden, die neben dieser auch ganz anders definierte
Teilmengen enthält.
Schließlich halte ich den Terminus "Erscheinungsform" für das in den FRBR
als "manifestation" Bezeichnete sprachlich für nicht so glücklich, weil er mir
für das Gemeinte ungebräuchlich zu sein scheint. Auch wenn zu Recht
darauf hingewiesen wird, dass der deutsche Terminus "Ausgabe"
Eigenschaften sowohl von "expression" als auch "manifestation" der FRBR
beinhaltet, halte ich diesen dennoch für geeigneter als "Erscheinungsform" -
er muss nur im Sinne der FRBR neu definiert werden. Mit "Ausgabe" wird
dann der Forderung nach allgemeiner Gebräuchlichkeit eher entsprochen
als mit "Erscheinungsform", für das eine "Gebräuchlichkeit" für das damit
Gemeinte wohl erst noch künstlich hergestellt werden muss.
M. E. ist nach eindeutiger Definition der Terminus "Ausgabe" für
"expression" genauso unproblematisch zu verwenden, wie der Terminus
"Werk" für "work". Auch hier decken sich ja englischer und deutscher
Terminus nicht vollständig: dem deutschen Terminus "Werk" fehlt die
absolute Abstraktion des FRBR-Terminus, er enthält - wie der Begriff
"Ausgabe" - auch Inhalte einer weiteren Entität (hier der Entität
"expression").
Mit freundlichem Gruß
Ihr Kurt Pages
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