[rak-list] Normierter Sucheinstieg | Ermessen des Katalogisierers

Thomas Berger ThB at Gymel.com
Fre Nov 14 18:08:53 CET 2014


Lieber Herr Immega, liebe Liste,


> im Zuge der Diskussion über das Staatsbürgerprinzip ist mir ein Satz
> aufgefallen, der häufig im Zusammenhang mit RDA auftaucht und bei dem ich ein
> leicht ungutes Gefühl habe:
> 
> "In Zeiten von Online-Katalogen hat der bevorzugte Name hat nicht mehr die
> Relevanz, die er in einem Zettelkatalog noch hatte ..."

so gesehen, ich auch: Wenn man einen traditionellen Katalog online stellt
(etwa als Image-Katalog oder zwar etwas datenbankbasiertes, das aber genau
das als Daten enthaelt, was frueher zum beschriften von Karteikarten
notwendig war), ist wenig gewonnen, durch Moeglichkeiten der Volltextsuche
allerdings ein bisschen.

Ich interpretiere diese und aehnliche Aussagen so, dass Funktionalitaet
unterstellt wird, die nur in Online-Katalogen ueberhaupt (sinnvoll) zu
realisieren ist, hier z.B. Nutzung von Normdaten und speziell das Verknuepfen
damit bzw. das Mitfuehren von Verknuepfungsnummern. Natuerlich gab es die
GKD bereits vor 25 Jahren und sie wurde in der traditionellen Katalogisierung
eingesetzt - man konsultierte sie auf Microfiche und entnahm ihr die "korrekte"
Ansetzung und die benoetigten Verweisungsformen, wie sie fuer die Anfertigung
der Einheitskarte und der NE-Verweise oder -Karten notwendig waren. (Aber
damals gab es viele Bibliotheken, die sich keine Lesegeraete und keine GKD
leisten konnten, die haben dennoch katalogisiert)


> Das ist natürlich wahr. Ich finde aber, dass man die bevorzugte Namensform
> (wie auch die Darstellungsform des Datensatzes) andererseits auch nicht
> unterschätzen sollte. Es ist nicht ganz gleichgültig, wie der normierte
> Sucheinstieg aussieht - so, wenn er in einem Zitat verwendet wird, wenn eine
> Literaturliste zusammengestellt wird, wenn eine biographische Abteilung in der
> Freihand nach Namen sortiert ist, usw. Auch die Tatsache, dass z.B.
> Online-Lexika auf GND-Daten verlinken, sollte uns unsere Verantwortung bewusst
> machen, die wir für die Normierung von Namen haben.

Interessantes Beispiel: Ich glaube nicht, dass es je ein enzyklopaedisches
Projekt gegeben hat, das sich auch nur einen Deut darum geschert hat, wie
die Bibliothekare es halten. Bis 2012(?) war es hingegen "geregelt", gewisse
Personen je nach Ecke des Bibliothekskatalogs auf zwei verschiedene Arten
verbindlich anzusetzen, halt alternativ nach RAK-WB oder RAK-OeB auf der
einen Seite, und nach RSWK auf der anderen Seite. DAS war Nutzern nicht
einfach zu vermitteln...

Schon seit langem hatten die RSWK (und damit die SWD-Ansetzungen von
Personen) eher das Gebraeuchlichkeitsprinzip verfolgt: Meyers und
Brockhaus waren die primaer zu konsultierenden Quellen, dann weitere,
deren Reihenfolge verbindlich festgelegt war. Erst wenn man dort
ueberhaupt nicht fuendig wurde, wurde man in die /Freiheit/ entlassen,
die Person selber anzusetzen.

Spaeter dann wurde diesen noch der Nachweis in PND bzw. hilfsweise LC-NAF
vorangestellt, d.h. /Einheitlichkeit/ der Ansetzung wurde zum wichtigsten
Ziel.

Mit der Individualisierungsrichtline von 2006 (auch als Praxisregel zu
den RAK-WB) wurde m.W. erstmalig in einem Regelwerk die Existenz von
Normdateien thematisiert und gefordert, *Daten* zu den Personen zu
erfassen unter ausdruecklichem Hinweis darauf, dass diese nicht a
priori zum Bestandteil der *Ansetzung* werden, sondern nur unter
gewissen (geregelten) Bedingungen.

Ich interpretiere das so, dass die Ansetzung als Zeichenkette von
der Aufgabe entlastet wird, als einziges Tranportvehikel fuer
Information stets korrekte und hinreichend individualisierende
Daten zu liefern. Umgekehrt wird der Normdatensatz gestaerkt in
seiner Funktion, eindeutige Identifizierung leisten zu koennen,
jetzt und auch prophylaktisch fuer den Fall, dass spaeter
gleichnamige Personen in das bibliographische Universum einwandern.



> Dazu gehören dann natürlich auch präzise Regeln. Natürlich ist RDA ein
> Regelwerk, aber ich habe den Eindruck, dass in vielen Details, die ja bewusst
> offen formuliert sind, die Regeln nicht ausreichen und das derzeit noch nicht
> ganz von den Anwendungsregeln aufgefangen wird - jedenfalls nicht in dem Maße,
> wie es die GND-Anwendungsbestimmungen vor dem Hintergrund von RAK versuchten.
> Dann auf das Instrument des "Ermessens des Katalogisierers" zu verweisen,
> erscheint mir nicht ausreichend.

Die RDA enthalten (verbindlich) ebenfalls Regeln, dass Personen zu
identifizieren und Daten zu erfassen sind. Optional zusaetzlich
ermoeglichen sie die Fortfuehrung der AACR2-Praxis, die Lebensdaten
plus hinreichend viele individualisierende Merkmale zum Bestandteil
der /Ansetzung/ machen. Leider macht die D-A-CH-Anwendungsebene
der RDA diese Option fuer uns verpflichtend, d.h. Ansetzungen als
Zeichenketten werden im Vergleich zur RAK-Tradition *aufgewertet*!

Nutzt man die GND als Normdatei, kann einem das aber ziemlich egal
sein, denn die zusaetzlich fuer die Ansetzung notwendigen Bestandteile
lassen sich aus den ohnehin zu erfassenden Daten ableiten. Und nutzt
man MARC21 als Datenformat, so lassen sich die regelwerksindizierten
Ergaenzungen zum ~eigentlichen~ Namen auch maschinell als solche
erkennen...

Das war aber jetzt nur ein Exkurs, denn die Ermessensprobleme liegen
ja jetzt und weiterhin meistens bei der Bestimmung des fuer die
Bildung der Ansetzung heranzuziehenden eigentlichen Namens (das war
bei den RAK die Ansetzung, jetzt muss man komplizierter formulieren...)


> Zunächst einmal: Woher soll ein "Ermessen des Katalogisierers" kommen? Diese
> "Regel" hätte ich den angehenden Bibliothekaren, die ich bis vor einem Jahr in
> Hannover in Formalerschließung unterrichtet habe, nicht guten Gewissens
> präsentieren können; sie haben zu Beginn (begreiflicherweise) großenteils keine
> Vorstellung von verschiedenen Namensformen oder Schreibweisen oder auch nur von
> mehrteiligen Namen. Ein solches Ermessen kann nur anhand von eindeutigen Regeln
> überhaupt erst wachsen.

Natuerlich. Aber traditionelle Regeln funktionierten doch so:
Das bibliothekarische Regelwerk kann auf die Vorlage angewandt werden
und setzt ausser dem Weltwissen des Bibliothekars nichts weiter
voraus, um eindeutige Ergebnisse zu liefern. Gabriel Garcia Marquez
war Kolumbianer, wir haben Regeln fuer Namen des spanischen Sprachraums
und keine Ausnahmeregeln fuer kolumbianische Namen, fertig. /Zudem/
steckt dahinter die Annahme, dass dieses Weltwissen absolut gesichert
ist, jetzt und in Zukunft besteht absolut keine Unsicherheit darin,
dass er Kolumbianer war, wann er geboren wurde und was noch alles fuer
die Regeln relevant sein mag. Bzw. wenn wir ausnahmsweise einmal keine
vollstaendige Information haben, so scheint mir ausserdem unterstellt
zu sein, dass dies ebenfalls ewig so bleibt: Denn mit mehr, besserer
oder "korrekterer" Information koennte ja eine zukuenftige, regelgerechte
Ansetzung anders ausfallen als die heutige, regelgerechte: Gerade fuer
uns, die fest in der Tradition des Code Napoleon verwurzelt sind, eine
aeusserst unbehagliche Vorstellung, denn von Regeln, die taeglich andere
Ergebnisse zeitigen ist es nur ein kleiner Schritt zu Regeln, die sich
taeglich aendern...

Der Nutzer uebrigens besitzt dasselbe (wenn nicht gar umfassenderes) Weltwissen
wie der Bibliothekar, jedenfalls nichts abweichendes. Insofern wird er unsere
Hallen erst nach eingehender Vorbereitung und Selbstpruefung betreten, um den
General in seinem Labyrinth zur Entlehnung zu erbitten, er weiss dann bereits,
dass es sich um ein herausragendes Stuck kolumbianischer Literatur handelt und
wird eilfertig unseren Hinweis auf die kulturellen Besonderheiten des
hispanischen Voelkchens entgegennehmen und zu seinem Frommen anwenden.

Mich duenkt dies alles heillos aus der Zeit gefallen, und jeder Versuch,
die Regeln in der bestehenden Form noch weiter zu praezisieren verstaerkt
m.E. nur die Abhaengigkeit von gruenderzeitlichen Vorstellungen zur
ueberzeitlichen Universalitaet sowie umfassender und kanonisierbarer
Beherrschbarkeit von "Wissen".



> Aber auch darüber hinaus bleiben m.E. in Verbundkatalogen, wie wir sie im
> deutschsprachigen Raum haben, weiter präzisierte Regeln unabdingbar - bei
> KatalogisiererInnen aus unterschiedlichsten Einrichtungen und mit verschiedenen
> Hintergründen - damit nicht unnötiger Diskussionsbedarf entsteht. Wir können
> also gerade bei unserer Katalogstruktur vermutlich nicht umhin, die
> Anwendungsregeln weiter auszubauen.

Bezueglich Ansetzungsregeln habe ich dieses Jahr so eine Diskussion
auf der RDA-Liste beobachten koennen: Wie weit ist hinreichend individualisiert,
wenn ich ueber meinen konkreten Bestand hinausblicke und die Personen-
ansetzung in der Normdatei vornehme: Morgen mag jemand kommen und aus
seinem, ganz anders gelagerten Bestand meine Ansetzung aus der Normdatei
fuer die ganz falsche Person nutzen und niemand merkt es. Die Diskussion
(ich war leider zu traege daran teilzunehmen) kam leider nicht zu dem
mir einzig logisch erscheinenden Schluss, dass das Denken in Ansetzungen
im Kontext grosser Normdateien an sein natuerliches Ende kommt und
an dieser Stelle ueberwunden werden muss - /Daten/, die die Identitaet von
Personen auch ueber das von Ansetzungen leistbare festzurren, da sie auch
nachtraeglich hinzugefuegt werden koenne, sind da die Loesung und in der
GND schon lange und nun auch in den RDA als Prinzip verankert.



> Neben der reinen, auch automatisch zu erreichenden Datenmenge gewährleisten
> doch vor allem präzise Regeln und einheitliche Standards die Qualität unserer
> Datenbanken; Qualität allein rechtfertigt jedenfalls den Aufwand, den wir damit
> treiben - und bildet damit letztlich unsere Daseinsberechtigung (jedenfalls als
> KatalogisiererInnen ...

Die RSWK-Regeln mit einer verbindlichen Prioritaetenliste von Nachschlagewerken
waren ebenfalls sehr praezise und fuehrten zu absolut reproduzierbaren
Ergebnissen bei der Namensansetzung (halt nach "Gebraeuchlichkeit" und nicht
nach Staatsbuergerprinzip). Ich habe das nicht ganz verfolgt, die Probleme
damit sind aber aehnlich: Des oefteren wird die Liste ueberarbeitet (neue,
bessere Nachschlagewerke kommen hinzu, andere gelten inzwischen als veraltet
und werden herabgestuft - d.h. das (immerhin externalisierte) Weltwissen ist
im Fluss und man muss darauf reagieren). Und die Listen wurden immer
ausufernder (und viele der aufgefuehrten Werke sind laengst vergriffen), so
dass fuer manche Bereicheiche Bereiche die wenigsten Bibliotheken die
Ausstattung haben, die Regeln anzuwenden (immerhin die Aufweichung, dass nicht
der einzelne Bibliothekar das Wissen im Kopf haben muss, es reicht wenn die
Bibliothek es im Bestand hat - und selbst das stoesst an Grenzen der
Praktikabilitaet).

Die Internationalisierung nicht nur der Regelwerke sondern auch der Normdateien
koennen wir seit 2007 an VIAF studieren. Mit Google Translate haben wir
inzwischen alle keine Probleme mehr, 毛澤東 oder 毛泽东 zu entziffern, aber
bei wirklich einheitlichen Regeln liefe es darauf auch in unseren Katalogen
hinaus, diesen Preis fuer Korrektheit faende ich zu hoch.

Wenn das Ziel der Normierung Einheitlichkeit ist und bleiben soll, so muessen
wir dennoch den intergalaktischen Anspruch dieser Einheitlichkeit aufgeben,
den wir in unseren streng auf Fakten basierenden Regeln zu gewaehrleisten
koennen glaubten, erstens weil das nur in einer Seifenblase funktioniert und
zweitens weil der Nutzen der Einheitlichkeit rapide abnimmt, wenn man
"Wahrheit" zu stark ueber "Gebraeuchlichkeit" stellt. Das bedeutet zusammen mit
dem Anspruch auf Einheitlicheit muss formuliert werden, fuer welchen Kontext
diese hergestellt werden kann. Im Rahmen der Neuen Deutschen Biographie (mit
ihren vielen Querverweisen) waere es gewiss fatal, wenn Namen uneinheitlich
genutzt wuerden. Im Rahmen eines Bibliothekskatalogs auch - keine Frage:
Solange das Gebilde so klein ist, dass ich es redaktioneller Kontrolle
unterwerfen kann, habe ich die Moeglichkeiten der Normierung und kann sie
nutzen. In der Praxis haben wir allerdings noch eine zeitliche Dimension,
die Verbundkataloge sind - trotz Redaktionsstellen - mit Daten aus
Retrokonversionsprojekten ueppigst ausgestattet - unmoeglich hier retrospektiv
zu normieren.

Wenn aber Daten aus heterogenen Quellen zusammengefuehrt werden (wie etwa
in der Europeana oder dem Achivportal-D), kann der "redaktionelle" Ansatz
nur scheitern und ebenfalls nicht funktionieren wird der klassische
Normdatenansatz (wenn ich nur /alle/ legitimen Verweise hinterlege wird
auch die krauseste Ansetzung von mir voellig unbekannten Institutionen
dadurch abgedeckt sein) und die einzig mir bekannte Loesung sind explizite
/datentechnische Bezuege/ zu Normdaten (auf deutsch: Identifier) in den
Objektbeschreibungen. Und damit - wir sind wieder am Anfang - lassen sich
auch nachtraeglich Einheitlichkeiten - sogar beliebige, fuer jeden
Recherchierenden andere ;-) herstellen.

viele Gruesse
Thomas Berger