[rak-list] Zum Aschermittwoch: Was wird aus MARC?

Bernhard Eversberg ev at biblio.tu-bs.de
Mit Mar 9 08:36:20 CET 2011



Was kommt nach MARC?

Auf der Fortbildung letzten Freitag in Berlin kam u.a. auch die
Frage aller Fragen: Welches Format wird oder koennte MARC ablösen?
Meine Antwort war nur ein indirektes Eingeständnis, es nicht zu
wissen. Allerdings weiß momentan wohl niemand eine Lösung.
In der RDA-Liste ist die Frage schon mehrfach angeklungen, auch in
der NGC4LIB, und nichts anderes als das kam heraus. Immer wieder wird
gemutmaßt, ein MARC-Nachfolger müsse mit XML strukturiert sein, aber
das einzige, was es gegenwärtig in der Richtung gibt, ist MARCXML, doch
das ist nichts als eine 1:1-Abbildung von MARC mit viel mehr drumrum,
wobei dann am Ende das Gewicht der Verpackung schwerer ist als der
Inhalt. Das kann's nicht sein, und das darf's nicht sein, denn gewinnen
kann und sollte nur eine Lösung, die eleganter ist als MARC, und das
ist MARCXML eindeutig nicht, es ist fett und plump. Wer nun mit MODS
antworten wollte, muß zugeben, daß dies noch schlimmer ist und doch
MARC nicht voll ablösen kann.

Ein extrem wichtiger Aspekt ist die Ökonomie, und zwar nicht nur
hinsichtlich Speicherplatzbedarf und Verarbeitungsgeschwindigkeit
(auch die ist mit XML suboptimal), sondern auch hinsichtlich der
Eingabe und Bearbeitung der Daten. In dem Punkt ist ein halbwegs gut
gemachtes MARC-Editiersystem mit Kategorienummern kaum zu schlagen,
sonst gäbe es längst z.B. irgendein formulartechnisches Konzept, gibt
es aber nicht. Auch unsere Nicht-MARC-Systeme arbeiten an der
Katalogisieroberfläche nicht mit Formularen, sondern mit Feldnummern!
Unverschleiertes XML taugt für eine Eingabeoberfläche überhaupt nicht.

Revolutionär gebärdet sich die Denkrichtung "RDF" und "Linked Data",
und das wäre eine gänzlich andere Abbildung und Strukturierung alles
dessen, was wir unter bibliographischen Daten bisher verstehen. Diese
Schule will keine Datensätze mehr, sondern "statements", lauter
einzelne, freischwebende (nicht zusammenhängend gespeicherte) Aussagen
über Ressourcen, welche jeweils mit einer URI eindeutig benannt wären.
Verknüpft mit dieser URI, nicht zusammengebündelt zu einem Datensatz,
würden beliebig viele Aussagen im Netz herumschwirren. Ein solches
Konzept mag gut ins "Cloud"-Paradigma des globalen Netzes passen, es
bräuchte aber noch weit mehr Speicher und Verarbeitungsleistung und
noch dazu Bandbreite ohne Ende, weil ja dem Suchenden dann doch immer
wieder Zusammenfassungen von Statements präsentiert werden müssen,
und die wären dann jeweils blitzschnell von allen Kontinenten herbei-
zuholen. Ein extremerer Gegenpol läßt sich nicht denken zum autonomen,
alle nötigen Daten komplett umfassenden, netzunabhängigen Lokalsystem
der nunmehr alten Schule.
Wie und wo dann alle Statements zu einer Ressource zu erfassen, zu
editieren, zu speichern und sodann zu indexieren wären, das alles
gilt es noch zu konzipieren. Ein real gangbarer Weg ist hier noch
längst nicht zu erkennen. Nebenbei müßte OCLC ein ganz anderes
Geschäfts- und Abrechnungsmodell erfinden; eine Neigung dazu ist nicht
erkennbar. Daß der US-Markt, auf dem jede Innovation überzeugen
muß, keine Kaufkraft mehr hat, kommt erschwerend hinzu.
Es ist wohl nicht ganz übertrieben, den Vordenkern der "Statement"-
Sichtweise einen Mangel an Bodenhaftung zu attestieren. Nicht nur in
unserem Umfeld wird einfach nicht mehr gefragt, ob physische
Ressourcen und Netzinfrastruktur etwas kosten und ob sie nachhaltig
störungsfrei verfügbar sein werden. Schlimmer noch, es wird kein
Plan B aufgestellt für den Fall eines nachhaltigen Ausfalls oder
Nachlassens der Verläßlichkeit bei steigenden Kosten. Alle Zukunfts-
visionen blenden das völlig aus.

"MARC must die!" titelte schon vor Jahren der Kolumnist Roy Tennant
im Library Journal:
   http://www.libraryjournal.com/article/CA250046.html
Später nahm er das aber kleinlaut zurück und erkannte das Versagen
neuerer Metadaten-Konzepte in "Metadata's Bitter Harvest":
   http://www.libraryjournal.com/article/CA434443.html

Meiner bescheidenen Meinung nach kann man, immer mit dem Blick auf
die Ökonomie des Ganzen, kaum was Besseres erreichen als ein von
historischem Ballast und anderen Betulichkeiten befreites MARC-
ähnliches Format. Das ist langweilig, aber wie gesagt, keiner weiß
eine bessere Lösung. Aus diesem heraus können RDF-Statements generiert
werden, und das wäre auch jetzt schon möglich, wenn sie sich denn als
vorteilhaft erweisen. In Köln z.B. und bei der DNB hat man das mit
den freigegebenen Daten ja schon gemacht. Wo sind die Erfolge damit,
die wirkmächtigen neuen Ansätze, wo wurden diese freien Daten schon
aufgegriffen in ganz neuen Szenarien außerhalb unseres begrenzten
Dunstkreises?

Wenn's nun für MARC finster aussehen sollte, wie stehen wir dann da
mit unserem Umstieg von MAB auf MARC? Sind wir von einem sinkenden
Schiff auf ein ebensolches umgestiegen? Falls ja, dann gehen wir
immerhin nicht mit einem Fährschiff unter sondern mit einer Titanic.