[rak-list] Abschlussbericht der FRBR-Arbeitsgruppe zum Thema "Aggregates"

Heidrun Wiesenmüller wiesenmueller at hdm-stuttgart.de
Die Dez 20 08:47:34 CET 2011


Lieber Herr Berger,

> Wenn ein "Journal" als "Aggregate of Articles" einbezogen wird, sollte es
> fuer eine Schriftenreihe auch kein Problem sein...
>

Theoretisch ja, aber ich habe schon erhebliche Probleme mit der 
Vorstellung einer "single manifestation" für ein fortlaufendes Werk, die 
man nach der Definition aus dem Papier zwingend bräuchte.

Nehmen wir als Beispiel eine Schriftenreihe mit derzeit 20 Bänden. Man 
kann natürlich argumentieren: Wenn ich vor einem Regal mit diesen 20 
Bänden stehe, dann habe ich eine Manifestation der Reihe (bzw. ein 
Exemplar davon) vor mir, die aus 20 buchbinderischen Einheiten besteht. 
Wenn es die Bände zusätzlich auch noch als E-Books gibt, dann wären 
diese 20 E-Books zusammen eine weitere Manifestation. Diesen beiden 
Manifestationen entspräche eine Expression des Reihen-Werkes, die 
sozusagen aus der Summe des intellektuellen Gehalts der 20 Bände besteht.

Aber sobald man in die Details geht, stößt man auf Probleme: Was 
passiert, wenn Band 21 erscheint? Dann hat sich ja sowohl der Inhalt als 
auch die physische Form geändert. Muss ich dann also zusätzlich eine 
neue Expression für die Reihe annehmen, welche nun den intellektuellen 
Gehalt von 21 Bänden enthält, sowie eine neue Manifestation, die nicht 
mehr 20, sondern 21 Bände umfasst? Oder soll man irgendwie von Entitäten 
ausgehen, die sich dynamisch ändern?? Das würde m.E. nicht so recht ins 
FRBR-Modell passen und müsste zumindest kommentiert werden.

Man kann sich viele weitere Problemfälle ausmalen: Wenn z.B. Band 5 in 
einer inhaltlich überarbeiteten Neuauflage erscheint - kommt dann schon 
wieder eine neue Expression heraus (die aus dem intellektuellen Gehalt 
des neuen Band 5 plus dem der anderen 19 unveränderten Bände bestehen 
würde) und entsprechend eine neue Manifestation? Oder wenn Band 10 in 
einer inhaltlichen unveränderten Ausgabe, aber mit anderem Layout 
erscheint - habe ich dann wieder eine neue Manifestation, bestehend aus 
19 unveränderten Bänden und einem veränderten Band? Es könnte 
beispielsweise auch sein, dass die E-Book-Variante erst mit Band 11 
einsetzt - müsste ich dann dafür nicht eine Manifestation mit kleinerem 
Umfang (nur Bände 11-20) annehmen und entsprechend wiederum eine neue 
Expression, die nur den intellektuellen Inhalt dieser Bände enthält? 
Schwierig wird's auch, wenn es mittendrin einen Verlagswechsel gibt 
(neuer Verlag führt im FRBR-Modell zu einer neuen Manifestation).

Ich will nicht behaupten, dass eine solche Modellierung unmöglich wäre, 
aber sie erscheint mir zumindest sehr umständlich und unnötig 
kompliziert. Philosophen würden deshalb wohl zu "Ockhams Rasiermesser" 
greifen und nach einer einfacheren Lösung suchen. Diese könnte darin 
bestehen, dass man an den Knoten für das Reihen-Werk nicht direkt einen 
FRBR-Baum mit Expressionen und Manifestationen des Gesamtwerks hängt, 
sondern noch eine zusätzliche Ebene für die einzelnen Teile des 
Reihen-Werkes einzieht, also "Werk: Teil 1", "Werk: Teil 2" etc. (über 
die in FRBR vorgesehene Beziehung Teil-Ganzes bei Werken). Jeder dieser 
Werkteile bekäme dann seinen eigenen FRBR-Baum mit einer oder ggf. 
mehreren Expressionen und den Manifestationen. Kommt ein neuer Band 
dazu, so wird einfach ein neuer Werkteil ergänzt, ohne dass sich dies 
auf das bisherige Konstrukt auswirkt. Wird Band 5 inhaltlich 
überarbeitet, so bekommt nur das zugehörige Teilwerk eine neue 
Expression. Erscheint Band 10 in neuem Layout, so gibt es eben in diesem 
Baum eine neue Manifestation usw.

Dann wäre es aber nicht - wie im Papier der Arbeitsgruppe vorgesehen - 
die Ebene der Manifestation, die den Doppelcharakter hätte (einerseits 
Manifestation der Expressionen der Einzelwerke, andererseits 
Manifestation der Expression des aggregierenden Werkes), sondern die 
Ebene der Expression: Jede Expression würde sowohl das Einzelwerk (den 
Stücktitel) realisieren als auch einen Teil des Reihenwerks. Das wäre 
zugegebenermaßen ein Widerspruch zum bisherigen Stand der FRBR, denn 
derzeit kann eine Expression nur genau ein Werk realisieren - das könnte 
man aber m.E. im Fall von aggregierenden Werken durchaus ändern.

Nun bin ich mir gespannt, wer meinem philosophischen Höhenflug bis 
hierher gefolgt ist ;-)

Viele Grüße
Heidrun Wiesenmüller


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Prof. Heidrun Wiesenmüller M.A.
Hochschule der Medien
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