AW: [rak-list] Veranstaltung dfes DBV Sektion IV 19.05.05

Hengel-Dittrich, Christina hengel at dbf.ddb.de
Fri Jun 10 13:31:19 CEST 2005


Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,

mein Eindruck von der "großen AACR2-Kontroverse" ist, dass die inhaltlichen Meinungsunterschiede zum zukünftigen Regelwerk - soweit sie denn wirklich vorhanden sind - durchaus quer liegen zur Frage "Umstieg auf ein internationales Regelwerk oder Weiterentwicklung der RAK/RfK" - die meines Erachtens mittlerweile gegenstandslos ist. 

Ein praktisches Beispiel zur Erläuterung: In dem Projekt zur Angleichung der Personenregeln waren zwei inhaltliche Entscheidungen stark umstritten, nämlich die über die sprachliche Form (originalsprachig versus deutsch) und die über Zusätze mit der Ergänzung zur vollständigeren Namensform. In beiden Fällen sprachen sich die "RfK-Vertreter" eindeutig für die AACR2-nahe, international gebräuchliche Lösung aus, gegen das Votum mehrerer "Umstiegs-Befürworter", die zwar auch auf Kompatiblität Wert legten, in der konkreten Entscheidungssituation aber gleichzeitig Praktikabilität und Schutz der Altdaten im Auge hatten. 

Meinungsunterschiede hat es meines Erachtens eigentlich nicht über die Zielrichtung, sondern über das Ausmaß der Regelwerks-Erneuerung hin zum Online-Katalog gegeben: ob man im deutschen Regelwerk nicht schon ein bisschen moderner sein sollte, als die AACR es zur Zeit noch sind (das war eine durchaus verständliche, aber auch risikoreiche Sicht). Diese Meinungsunterschiede sind durch die Entwicklung der RDA jetzt eigentlich überholt, die erklärtermaßen den Erfordernissen von vernetzten Online-Katalogen genügen soll. Natürlich wird es darauf ankommen, was diese RDA in Zukunft wirklich bringen. Ganz im Verborgenen ist dies allerdings nicht, da die 2003 begonnene Entwicklung eines neuen ICC dafür gute Anhaltspunkte liefert.

Meinem Eindruck nach war und ist es in der deutschen Regelwerksdiskussion völlig unstrittig, dass das künftige deutsche Regelwerk mit den AACR bzw. jetzt mit den RDA so zusammenpassen muss, dass Daten international tauschbar und nutzbar sind. Es kann nicht mehr unabhängig von der internationalen Regelwerksentwicklung - ICC und RDA - entwickelt werden, sondern hat sich darauf zu beziehen. 
Wir sind in dieser Entwicklung keine passiven Rezipienten, sondern bringen deutsche Standpunkte in die internationale Diskussion ein - in die IME-ICC-Diskussion, in die FRANAR-Diskussion, in die ISBD-Diskussion etc. - und werden sie auch in die RDA-Diskussion einbringen.

Mit besten Grüßen
Christel Hengel

   

-----Ursprüngliche Nachricht-----
Von: owner-rak-list at ddb.de [mailto:owner-rak-list at ddb.de] Im Auftrag von Heidrun Wiesenmueller
Gesendet: Freitag, 10. Juni 2005 08:37
An: rak-list at ddb.de
Betreff: Re: [rak-list] Veranstaltung dfes DBV Sektion IV 19.05.05

Liebe Kolleginnen,
liebe Kollegen,

Herr Eversberg schrieb am 08.06.:

>Wer es nicht verfolgt hat, sich aber noch an die große 
>AACR2-Kontroverse erinnert, muß nun erleben, daß die Situation jetzt 
>eine grundlegend andere ist. Das Thema "Migration zu AACR2" ist Schnee 
>von gestern! Soviel, aber noch wenig mehr, kann man jetzt sagen. Denn 
>dieses Regelwerk wird nun mit Sicherheit nicht weiterentwickelt, 
>sondern man hat sich ja im JSC entschlossen, einen ganz neuen Ansatz zu 
>wagen und sogar den Namen
>aufzugeben: alles redet jetzt von RDA.

In der Umstiegsdebatte der vergangenen Jahre kam gelegentlich die Idee eines "dritten Weges" auf, womit die aktive Mitentwicklung eines neuen, wirklich internationalen Regelwerks gemeint war. Deshalb stellt sich nun natuerlich die Frage: Koennten die RDA ein solches Regelwerk sein oder werden? Im Moment kann die Antwort nur lauten: Wir wissen es nicht, da derzeit nicht einmal Entwuerfe existieren.

Jedoch koennen wir aus der von Herrn Croissant am 02.06. mitgeteilten Stellungnahme des PPC <http://www.loc.gov/catdir/pcc/archive/aacr3-pt1pcc.pdf> ablesen, dass der erste (nunmehr zurueckgezogene) Entwurf - noch unter dem Namen AACR3 - aehnliche Erwartungen unserer amerikanischen Kollegen gerade _nicht_ erfuellt hat. Sehr ausfuehrlich geht man dort auf die internationale Kompatibitaet ein (S. 6) und stellt die Frage, ob das Vorgehen des JSC nicht geradezu  kontraproduktiv zu den Bestrebungen der Internationalen Katalogisierungskonferenzen sei. Beklagt wird dort ausserdem ein "distinct lack of compatibility with content standards used in other communities" 
(vgl. auch S. 3: "To our knowledge, even communities close to ours (such as those who work with archives, rare materials, image collections, museums, and sound archives) were not contacted by COP/JSC to find out whether those communites were even _interested_ in using an AACR3."). Das kuenftige Regelwerk muesse gut mit anderen Standards zusammenzuspielen, "instead of either pretending to be an island unto itself, or reinventing many wheels". 
Auch sonst waren die Kollegen offensichtlich enttaeuscht, weil vom erwarteten Modernitaetsschub wenig zu sehen war (S. 8: "We need a next-generation, forward-looking standard. We don't need simply a new edition of AACR. (...) These rules are primarily a rearrangement of the rules in AACR2").

Nun will man noch einmal von vorne anfangen, und unter dem neuen Namen RDA soll alles besser werden. Aber ob die Neufassung die hochgesteckten Erwartungen tatsaechlich wird erfuellen koennen, muss sich erst noch zeigen. Schon deshalb sollte es sich eigentlich von selbst verstehen, dass man sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht auf eine direkte Uebernahme der RDA festlegen kann.

Hat sich die Situation in Deutschland also wirklich so wesentlich veraendert? M.E: stehen sich noch immer zwei prinzipielle Ansaetze
gegenueber: Einerseits die "100%-Linie" - also der Wunsch, in Umsetzung der "reinen Lehre" eine Komplettangleichung an angloamerikanische Regeln zu erreichen (bisher AACR2, jetzt RDA). Charakteristisch dafuer ist eine eher theoretische Herangehensweise, wobei auch politische Ueberlegungen eine Rolle spielen. Frau Siebert hat dafuer den schoenen Ausdruck "romantisierende Regelwerksideen" gepraegt. Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die statt Perfektionismus eher auf Pragmatismus setzen und sich moderate Angleichungen wuenschen. Sie waeren auch mit einer Uebereinstimmung von - sagen wir einmal - 80 % zufrieden. Wozu ich neige, muss ich hier wohl kaum mehr betonen ;-)

M.E. spricht schon die allgemeine Lebenserfahrung fuer einen pragmatischen
Ansatz:

1. Wir koennen nicht "auf der gruenen Wiese" anfangen, sondern muessen Ruecksicht auf Bestehendes (= vorhandene Datenbestaende) legen. Dies sehen uebrigens auch die zitierten amerikanischen Kollegen so, vgl. S. 9: 
"Harmony with existing records and catalogs. It is imperative that this be a functional requirement for AACR3."

2. Egal, wie der weitere Prozess ablaufen wird: Eine 100%-Uebernahme von RDA (wie auch immer dies am Ende heissen und aussehen wird) ist garantiert nicht durchzusetzen. Es wird immer Ausnahmen und Zugestaendnisse geben (nicht nur aus strategischen, sondern auch aus sachlichen Gruenden). Man denke an die Schweizer Kollegen, die die AACR2 nicht annaehernd 1:1 uebernommen haben.

3. Nach dem Pareto-Prinzip (80:20-Regel) schafft man 80 % der Arbeit mit nur 20 % des Aufwandes. Fuer die letzten 20 % wuerde man hingegen 80 % des Aufwandes brauchen - nicht unbedingt wirtschaftlich!

Freilich koennen und muessen wur nun darueber diskutieren, auf welchem Weg man zu einer solchen pragmatischen Loesung kommen kann. Dass RDA dabei eine Rolle spielen muss, ist klar. Dass RDA aber bereits die Loesung _ist_, kann ich derzeit nicht erkennen.

Vielmehr waere es - nach meiner ganz persoenlichen Meinung - auch unter den jetzigen Rahmenbedingungen immer noch der beste Weg, die RAK weiterzuentwickeln. Dass diese nicht reformfaehig sein sollten, moechte ich abstreiten; vielmehr scheint mir, dass die deutsche Regelwerksdiskussion schon Anfang der 1990er Jahre manches vorweggenommen hat, was heute "Mainstream" ist. Die Probleme bei der Umsetzung, die es in der Tat gegeben hat, haben viel mit Strategiewechseln und Entwicklungsbruechen (auch schon vor dem Nikolausbeschluss!) zu tun, nicht zuletzt auch aufgrund der zweimaligen Neustrukturierung der Regelwerksgremien 1997 und 2000 (man vgl. 
dazu Ursula Hoffmanns immer noch hoechst lesenswerten Beitrag von 2002, S. 
875f.: <http://bibliotheksdienst.zlb.de/2002/02_07_04.pdf>).

Natuerlich kann man jetzt nicht einfach das Rad der Zeit zurueckdrehen und alles ignorieren, was zwischenzeitlich passiert ist. Aber auch wenn man nicht nahtlos an die RAK2-Entwuerfe anknuepfen kann, so kann man doch von diesen Vorarbeiten profitieren - ebenso wie von den RFK-Entwuerfen der AG RAK-Weiterarbeit. Wegweisende Ideen der juengeren Zeit (wozu ich beispielsweise auch das einheitliche Normdatenformat zaehle) sind in die Weiterentwicklung zu integrieren. Und natuerlich sollte auch die RDA-Entwicklung genau verfolgt und nach Moeglichkeit beruecksichtigt werden. Man mag bei diesem Prozess dann auch zu dem Schluss kommen, dass das Beibehalten des Names "RAK" fuer die Weiterentwicklung nicht mehr angemessen waere (wenn man Namen nicht ohnehin nur fuer Schall und Rauch haelt).

Ein solches Verfahren wuerde es m.E. auch nicht ausschliessen, sich parallel dazu aktiv mit Stellungnahmen an der RDA-Entwicklung zu beteiligen. Vielmehr ist eigentlich (wie schon Herr Geisselmann in seiner Mail vom 24.05. sagte) die Erarbeitung eigener Positionen eine notwendige Voraussetzung, um den RDA-Prozess sinnvoll mitzugestalten.

Mit freundlichen Gruessen
Heidrun Wiesenmueller
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Heidrun Wiesenmueller M.A.
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