[rak-list] Individualisierung

Charles Croissant croisscr at SLU.EDU
Wed Jan 23 16:55:59 CET 2002


Ich bin Katalogisierer an der Saint Louis University in Saint Louis,
Bundesstaat Missouri. In den 70er Jahren habe ich in Hamburg, dann in
Lübeck (Musik) studiert. Ich habe meinen Magister in Germanistik an der
University of Michigan gemacht, später habe ich die
Bibliothekarausbildung an der University of Illinois, Champaign-Urbana,
gemacht. 
Als praktizierender AACR2-Katalogisierer ist die jetzige Diskussion in
Deutschland für mich natürlich hochinteressant. Ich habe viel
Verständnis für die Sorgen, die auf dieser Liste zum Ausdruck kommen,
auch hierzulande haben wir mit Kürzungen und zunehmenden Arbeitsmengen
zu kämpfen. 

Ich möchte bei der Diskussion um Individualisierung ein Beispiel
anbieten, d.h. ich möchte aus der angloamerikanischen Sicht darstellen,
warum uns die Individualisierung von Personennamen so wichtig erscheint.
Ich rede im folgenden nur von der AACR2-Praxis--zur RAK-Katalogisierung
kann ich mich nicht äussern. Ich besitze ein eher begrenztes
theoretisches Wissen über RAK, habe aber natürlich keinerlei praktischen
Erfahrungen mit RAK.

Auf der einen Seite gibt es den grossen Dichter und Nobelpreisträger
Thomas Mann. In unseren Katalogen hat er die Ansetzung Mann, Thomas,
1875-1955.

Es gibt aber auch den amerikanischen Bibliothekar Thomas Mann. Er ist an
der Library of Congress angestellt und hat in den letzten 20 Jahren
mehrere angesehene Bücher über die Methodik des Recherchierens verfasst.
Herr Mann hat in unseren Katalogen die Ansetzung Mann, Thomas, 1948- 

Nehmen wir jetzt an, ein OPAC-Benutzer in Washington DC möchte
feststellen, wieviele von den Werken des Bibliothekars Thomas Mann in
der Library of Congress vorhanden sind. Er gibt die Autorensuche Mann,
Thomas ein. Auf dem Bildschirm, den er dann zu sehen bekommt, sieht er
zwei Eintragungen (der Einfachheit halber ignoriere ich hier einige
Verweisungen, die für meine Argumentation belanglos sind):
Mann, Thomas, 1875-1955  [mit 347 Treffern]
Mann, Thomas, 1948-        [mit 8 Treffern]

Der Benutzer kann sich wohl denken, dass Mann, Thomas, 1875-1955 nicht
der Thomas Mann sein kann, den er sucht. Er klickt also auf die
Eintragung Mann, Thomas, 1948- und sieht eine Liste von 8 Titeln, die
alle von dem Bibliothekar Thomas Mann verfasst worden sind.

Versetzen wir unseren Benutzer jetzt nach Göttingen. Er wiederholt seine
Suche im GBV. Wenn er hier Mann, Thomas eingibt, bekommt er eine
Trefferliste mit 1778 Titeln. Wie kommt er an die paar Werke, die von
dem Bibliothekar Thomas Mann verfasst worden sind? (Von den 8 LC-Titeln
sind 3 im GBV vorhanden, dieses konnte ich per Titelsuche bestätigen.)
Selbst wenn er seine Suche auf Materialart = Bücher und
Erscheinungsjahre = 1975- einschränkt, gibt es immerhin 920 Treffer.
Ausserdem erscheinen auf dieser Liste natürlich weitere Thomas Manns,
die weder der Dichter noch der Bibliothekar sind. 

In so einem Fall erscheint es dem amerikanischen Benutzer sehr
hilfreich, wenn Namensansetzungen durch Zusatz von Lebensdaten
individualisiert werden. 
Ich möchte hierzu bemerken, Zusätze mit Lebensdaten sind nach AACR2 nur
dann obligatorisch, wenn es darum geht, einen Konfliktfall zu lösen. Es
hat sich aber die Praxis durchgesetzt, wenn neue Namensansetzungen in
unsere National Authority File (nationale Normdatei, von LC unterhalten)
eingegeben werden, gleich die Lebensdaten (vor allem Geburtsjahre) in
die Ansetzung mit aufzunehmen, wenn diese in der Vorlage ohne langes
Suchen zu finden sind. Wir hoffen mit dieser Praxis die Arbeit
zukünftiger Katalogisierer zu erleichtern. Unsere Vorgehensweise ist
letzten Endes eine sehr pragmatische.

mit freundlichen Grüssen,
Charles Croissant

-- 
Charles R. Croissant
Catalog Librarian
Pius XII Memorial Library
Saint Louis University
St. Louis, MO  63108
(314) 977-3098
croisscr at slu.edu




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