[rak-list] Die deutsche Diskussion um AACR2

Charles Croissant croisscr at SLU.EDU
Thu Apr 18 19:21:14 CEST 2002


Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,

Ich las mit grossem Interesse die email von Thomas Berger vom 17. April
2002, in der er sich auf Frau Münnichs email über AACR2 und
Haupteintragung bezog. Ich nehme diese email als Anlass, einige
persönliche Meinungen zu der derzeitigen AACR2-Diskussion in Deutschland
zu äussern.

Unter anderem schrieb Herr Berger:

>Ich habe den Eindruck gewonnen, dass in der RAK-Welt noch eine
>ganz fundamentale Fehleinschaetzung der AACR vorliegt, vielleicht
>ist diese falsche Einschaetzung vorprogrammiert durch die
>"getreuere" Umsetzung der Ergebnisse der Pariser Konferenz, ich
>weiss es nicht.

Seit ich im vergangenen Dezember angefangen habe, die RAK-Liste zu
lesen, hat es mich mehrfach gestört, dass in dieser Liste Aussagen über
AACR2 gemacht werden, die als Tatsachen präsentiert werden. Bei
genauerer Betrachtung stellt es sich aber heraus, dass sie auf
Hörensagen beruhen, oder nur eine Facette der Wahrheit zum Ausdruck
bringen, andere aber nicht berücksichtigen.

So stand in Frau Wiesenmüllers RAK-Liste-email vom 15. April 2002 unter
Punkt 2 den Satz:

> "
 da im Geiste des [AACR2]-Regelwerks
>Koerperschaften etc. durchgaengig deutsch angesetzt werden muessten!"

Laut AACR2 werden (nicht anders als bei RAK) Körperschaften unter ihrem
offiziellen Namen angesetzt, d.h. die Ansetzungsform erscheint in der
Sprache des Landes, in dem die Körperschaft ihren Sitz hat. Das geht aus
AACR2-Regel 24.1A hervor, wo es heisst:

"Enter a corporate body directly under the name by which it is commonly
known 
", was im nächsten Satz dann präzisiert wird:
"Determine the name by which a corporate body is commonly identified
from items issued by that body in its language 
" 

Ich verweise hier nachdrücklich auf die Phrase "from items issued by
that body in its language." Das führt dazu, dass französische
Körperschaften französisch angesetzt werden, deutsche Körperschaften
deutsch angesetzt werden, und so weiter, und so weiter. Ein kurzer Blick
in unsere National Authority File müsste genügen, um meine Leser hiervon
zu überzeugen. Die Praxen von AACR2 und RAK sind in dieser Beziehung
gleich, nehme ich an. Ich nehme ferner an, wenn die deutschen
Bibliotheken eines Tages etwa dazu kämen, eine Version von AACR2 zu
übernehmen, würden sie diese Regelung beibehalten wollen.

Es gibt nur einen Fall, wo die AACR2 einen englischsprachigen
Bestandteil in einer Ansetzungsform vorschreiben (für englischsprachige
Kataloge, wohlgemerkt), und das ist der Fall, wo ein "Addition"
("Zusatz", ähnlich wie eine Ordnungshilfe bei RAK) nötig ist, um das
Wesen des Körperschaftsnamens zu klären.

Zum Beispiel:
Sources hagiographiques de la Gaule (Project)

Sources hagiographiques de la Gaule ist laut AACR2 eine Körperschaft.
Der Name könnte aber als Titel (z.B. einer Schriftenreihe)
missverstanden werden. Also kommt der Zusatz "Project" dazu (vgl.
AACR2-Regel 24.4B). Da solche Zusätze für den Katalogbenutzer da sind,
erscheinen sie in der Sprache der katalogisierenden Bibliothek. In einem
deutschsprachigen Katalog würde die Ansetzungsform wohl heissen:
Sources hagiographiques de la Gaule (Projekt)

In einem französischsprachigen Katalog:
Sources hagiographiques de la Gaule (Projet)

Nächster Punkt:
Die Library of Congress Rule Interpretations werden m.E. oft
heraufbeschworen, um deutschen Katalogisierern Angst zu machen. Herr
Berger schreibt z.B.:

>Noch zu klaeren ist, inwieweit die Rule Interpretations
>a) ein Eigenleben als Gegenregelwerk entwickelt haben und 
>b) selber so hermetisch oder komplex sind, dass sie 
>interpretationsbeduerftig sind. 

Ich meine, man kann, wenn man will, ohne die Rule Interpretations nach
AACR2 katalogisieren. Wir sollten uns bei unseren skandinavischen und
schweizerischen KollegInnen erkundigen, ob sie es für nötig befunden
haben, alle Rule Interpretations zu übersetzen. Man sollte nicht
vergessen, die Rule Interpretations haben ursprünglich einen einzigen
Zweck verfolgt, nämlich die interne Katalogisierungspraxis der Library
of Congress schriftlich festzulegen. Sie haben ihre jetzige Stelle
erlangt, weil LC-Katalogisate bei uns in den Staaten so weit verbreitet
sind, und folglich US-Bibliotheken es für wirtschaftlich erachtet haben,
sich in ihren eigenen Katalogisaten nach LC-Praxis zu richten. Dies hat
bedeutend zur Einheitlichkeit der Katalogisierung in den USA
beigetragen. Ich persönlich habe sie oft hilfreich gefunden, an Stellen
wo die AACR2 mehrere Möglichkeiten zur Wahl stellen, oder sich etwas
verschlüsselt ausdrücken. Ich meine aber, bei einer etwaigen Übersetzung
ins Deutsche könnte man sehr "wählerisch" vorgehen, und nur die
Interpretationen übersetzen, die einem wirklich hilfreich erscheinen.

Herr Berger hat sehr recht, wenn er bemerkt, eine Version von AACR2, die
in Deutschland angewandt werden könnte, kann keine "Übersetzung" sein,
sondern wird in Wirklichkeit eine Übertragung sein, d.h., eine neue, an
deutsche Verhältnisse angepasste Version von AACR2.
	
mit freundlichen Grüssen,
Charles Croissant

-- 
Charles R. Croissant
Catalog Librarian
Pius XII Memorial Library
Saint Louis University
St. Louis, MO  63108
(314) 977-3098
croisscr at slu.edu




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