[rak-list] Wirtschaftlichkeitsuntersuchung - Umstieg auf internationale Formate und Regelwerke (MARC21, AACR2)

Heidrun Wiesenmueller wiesenmueller at WLB-STUTTGART.DE
Mon Mar 15 09:11:53 CET 2004


Sehr geehrte Frau Oehlschlaeger, liebe Kolleginnen und Kollegen,

zunaechst meinen ganz herzlichen Dank an die Arbeitsstelle fuer 
Standardisierung fuer die Veroeffentlichung des Kienbaum-Gutachtens! Zur 
parallelen Lektuere moechte ich allen Interessierten Prof. Naumanns Vortrag 
"Oekonomische Aspekte einer Umstellung von RAK auf AACR"
<http://www.bibliothek.uni-augsburg.de/kfe/mat/RAK_AACR_Oekonomie.pdf> ans 
Herz legen.

Der Kienbaum-Text erfreut das Auge durch viele bunte Bilder, ist freilich 
(zumindest fuer mich) nicht in jedem Falle transparent und leicht 
nachvollziehbar. Dies gilt insbesondere fuer das Rechenwerk, wo man sich 
mehr Erlaeuterungen gewuenscht haette (z.B. was wird unter den jeweiligen 
Kategorien genau verstanden, wie wurden die "Nutzenpunkte“ berechnet etc.). 
Fuer etwaige Missverstaendnisse bei den nun folgenden Hinweisen moechte ich 
mich deshalb schon vorab prophylaktisch entschuldigen.

1. Die untersuchten Szenarien geben die tatsaechlich zur Debatte stehenden 
Vorgehensweisen m.E. nur unvollstaendig wieder: Es fehlt zum einen die 
Untersuchung einer moderaten Anpassung der deutschen an die 
angloamerikanischen Standards (Stichwort: RAK-Weiterentwicklung), und zum 
anderen Frau Niggemanns "dritter Weg", also die aktive Beteiligung an der 
gemeinsamen Entwicklung wirklich internationaler Standards, wie sie die 
Frankfurter Preconference im Sommer 2003 anstossen sollte.

2. Fuer das Umstiegsszenario nimmt Kienbaum die Uebernahme 
englischsprachiger Ansetzungen an (S. 24). Das waere jedoch nicht nur in 
hoechstem Maße benutzer- und mitarbeiterfeindlich, sondern widerspricht 
auch den AACR, die dafuer ja eben die Landessprache vorsehen - in unserem 
Falle also Deutsch. Auch sonst wird offenbar eine 1:1-Uebernahme des 
Regelwerks bis hin zur Uebernahme angloamerikanischer Transliterationen 
(vgl. S. 25) vorausgesetzt, was meiner Erinnerung nach selbst die 
eifrigsten Umstiegsverfechter nie gefordert haben. Auch das Beispiel der 
Schweiz zeigt, dass die Annahme unrealistisch ist. Man koennte argwoehnen, 
dass damit die (schon an vielen Stellen widerlegte, aber dennoch weiterhin 
gebetsmuehlenartig
wiederholte) These vom unkomplizierten Datentausch nach einem Umstieg 
gestuetzt werden soll.
Wie valide die Kostenberechnung sein kann, wenn die Voraussetzung falsch 
ist, mag jeder fuer sich entscheiden.

3. Was die Kostenseite angeht, so errechnet das Gutachten, dass der Umstieg 
ueberraschend billig zu haben waere: Wirerfahren etwa, dass die 
Zusatzkosten im Vergleich zu einem "normalen" Software-Wechsel nur 10-20% 
betragen, und dass fuer den Regelwerkswechsel Schulungen von vier Wochen 
ausreichen (bei mittelgrossen und kleineren Bibliotheken tun es auch zwei). 
Ein Vierwochenkurs kostet pro Person 4.000 Euro; eine Bibliothek mit 25 zu 
schulenden Personen haette also gerade mal 100.000 Euro dafuer 
aufzubringen, die die Unterhaltstraeger sicher gerne zahlen werden. Der 
Personalausfall (im Beispiel 500 Mann- bzw. Frau-Tage) ist, soweit ich 
sehe, nicht in die Berechnung mit eingegangen, jedoch wird fuer eine 
halbjaehrige Lernphase nach der Schulung mit geringeren 
Katalogisierungsraten kalkuliert.

4. Viele Kosten, fuer die man detaillierte Berechnungen erwartet haette, 
tauchen im Bericht nicht auf. Ein Beispiel: Da in amerikanischen 
Bibliotheken die Normdaten nicht mit den Titelaufnahmen verknuepft, sondern 
in sie hinein kopiert werden, muss der komplette Datenbestand regelmaessig 
mit Hilfe von
Fremdfirmen aktualisiert werden, um Aenderungen bei den Normdaten 
nachzuvollziehen. Ebenso unsichtbar bleiben etwaige Kosten fuer 
Regelwerkslizenzen oder fuer die Fremddaten, die man - gemaess der zu 
Grunde liegenden Logik - nach einem Umstieg kuenftig auch von 
AACR-Anwendern wie Bolivien, Botswana und Papua-Neuguinea uebernehmen 
koennte. Auch die Standardisierungsarbeit selbst wird m.E. nach einem 
Umstieg nicht weniger, sondern eher mehr kosten, da es wohl kaum ohne 
deutsche Gremien gehen wird (zumal eben mit deutschen Sonderregeln zu 
rechnen ist) und gleichzeitig verstaerkt internationale Dienstreisen zu 
finanzieren sind; auch muessten natuerlich zahllose Papiere ins Deutsche 
uebersetzt werden.

5. Unerschuetterlich scheint der Glaube der Gutachter an die Segnungen der 
modernen Technik zu sein: Im Umstiegsszenario sind generell zwei 
Moeglichkeiten des Umgangs mit den "Altdaten" vorgesehen, die nach den 
Kienbaum'schen Vorstellungen beide erfreulich kostenguenstig zu realisieren 
waeren. Denn beim Modell Datenmigration handelt es sich selbstverstaendlich 
um eine rein "technische Datenmigration" ohne jegliche intellektuelle 
Nachbearbeitung (S. 24). Fuer die ZDB werden dafuer beispielsweise 250 
gD-Tage Zusatzaufwand angesetzt, fuer eine mittlere WB 20 Tage. Beim Modell 
"Einfrieren" der Datenbank ist nicht mehr als eine halbe Stelle gD 
dauerhaft fuer "Pflege altes Datenbankmodell" aufzubringen; der Nachteil 
des Katalogbruchs soll in diesem Fall durch einen zehnprozentigen Aufschlag 
beim Aufwand fuer das Retrieval ausgeglichen werden. Ich spare mir an 
dieser Stelle einen eigenen Kommentar dazu, wie realistisch solche 
Szenarien sind, und verweise stattdessen auf die Bewertung durch die 
ZDB-Experten:
<http://www.zdb.spk-berlin.de/downloads/pdf/ap3.pdf>, Abschnitte a) bis c).
Dieses Papier, das ja im Kontext des DFG-Projekts entstanden ist, haette 
man den Kienbaum-Gutachtern ruhig zur Kenntnis bringen koennen.

6. Mein Eindruck ist, dass Kienbaum eigentlich nur die Kosten, nicht jedoch 
den Nutzen wirklich quantifiziert hat, zumal die Errechnung der 
"Nutzenpunkte" recht unklar bleibt. Warum wird beispielsweise nicht 
prognostiziert, wieviel man mit dem Verkauf deutscher Titelaufnahmen auf 
dem internationalen Markt kuenftig erwirtschaften koennte (vgl. Kriterium 
"Steigerung der Attraktivitaet deutscher Daten auf dem internationalen 
Markt")? Stattdessen werden zehn Nutzenkategorien (S. 43) angefuehrt, die 
bei einem Brainstorming auf einem Workshop herausgekommen sind - die dabei 
genannten "Kriterien" (S. 44) werden in pro und contra Umstieg eingeteilt. 
Naeher hinterfragt oder geprueft hat man sie offensichtlich nicht: Hier 
findet man deshalb nicht nur erneut den fragwuerdigen "ungehinderten 
Datentausch" (fuer den in der Nutzengewichtung bei den WBs uebrigens die 
hoechsten Werte - 20,2% bis 21,5% - angesetzt werden, waehrend etwa die 
Nutzersicht nur mit 9,8% bis 11,1% zu Buche schlaegt), sondern auch die 
bemerkenswerte Behauptung, die Katalogisierung sei unter AACR einfacher als 
unter RAK. Dabei ist bisher m.W. selbst die Projektbearbeiterin von einem 
Mehraufwand in der Katalogisierung ausgegangen, z.B. durch die (hier 
natuerlich ebenfalls als Plus erwaehnten) "mehr Eintragungen" und die 
konsequente Individualisierug, die die AACR verlangen. Andere Punkte wie 
z.B. "Hinterfragung der Verbundstrukturen" und "Chance auf Beseitigung 
jeglichen Wildwuchs (sic!)" sprechen Bereiche an, an denen man m.E. auch 
unabhaengig von einem Umstieg arbeiten koennte. Problematisch scheinen mir 
auch Kriterien wie "Internationalisierung der Bibliotheksstandards" und 
"Mitarbeiter koennen international arbeiten", ueber deren Bedeutung im 
Alltagsleben der meisten Benutzer und Bibliothekare man trefflich streiten 
koennte.

7. Die gewichteten Nutzenkategorien werden sodann in Form von 
Kuchendiagrammen praesentiert. Interessanterweise erbringt das 
Umstiegsszenario dabei keineswegs einen ersichtlich hoeheren Nutzen als der 
Ist-Zustand, wie der Vergleich des "aggregierten Gesamtergebnisses" (S. 52 
bzw. 55) zeigt: Das Umstiegsszenario punktet nur im Bereich "Datentausch" 
und "Wettbewerb von Software-Anbietern". Die Bereiche "Standardisierung" 
und "Fremddatenverwendung" liegen nur unwesentlich hoeher als beim 
Ist-Zustand. Dieser schlaegt hingegen das Umstiegs-Szenario um Laengen auf 
den Gebieten "interne Prozesse" und "Datenqualitaet"; in den Bereichen 
"Mitarbeitersicht" und "Nutzersicht" ist er jeweils eine volle Stufe besser 
als das Umstiegsszenario. Einen Beleg fuer den angeblich hohen Nutzen des 
Umstiegs bleibt das Gutachten daher (zumindest in meinen Augen) schuldig. 
Dies mutet um so merkwuerdiger an, als ein solcher schon im Abschnitt 
"Ausgangslage" (S. 4, Absatz 1) postuliert wird und als Grundannahme das 
gesamte Opus zu durchdringen scheint.

Alles in allem stehe ich etwas ratlos vor diesem Gutachten (das laut 
DFG-Antrag uebrigens ca. 96.000 Euro kosten sollte). Dass es eine sinnvolle 
Grundlage fuer die anstehenden Entscheidungen bietet, scheint mir 
persoenlich zweifelhaft.

Mit freundlichen Gruessen
Heidrun Wiesenmueller


At 15:02 12.03.2004, you wrote:

>*** Bitte entschuldigen Sie evtl. Mehrfachempfang ***
>
>Sehr geehrte Damen und Herren,
>liebe Kolleginnen und Kollegen,
>
>der Schlussbericht der Firma Kienbaum zum Teilprojekt 
>Wirtschaftlichkeitsuntersuchung im Rahmen des DFG-gefoerderten Projekts 
>Umstieg auf internationale Formate und Regelwerke (MARC21, AACR2) liegt 
>nun vor und wird auf der Homepage Der Deutschen Bibliothek <s. 
><http://www.ddb.de/professionell/afs_projekt_arbeitspaket.htm>http://www.ddb.de/professionell/afs_projekt_arbeitspaket.htm> 
>veroeffentlicht. Zusaetzlich werden folgende Anlagen veroeffentlicht, die 
>der Wirtschaftlichkeitsbetrachtung u. a. zugrunde lagen:
>
>-       Fragenkatalog der Firma Kienbaum ("Interview guide" fuer die 
>Befragung von Bibliotheken und Verbuenden)
>-       Auszug aus der Deutschen Bibliotheksstatistik
>-       Rechenmodell fuer die Wirtschaftlichkeitsuntersuchung
>
>Ein wesentlicher Aspekt der Projekt-Studie besteht in der Abschaetzung der 
>Kosten und der Untersuchung der Wirtschaftlichkeit eines Umstiegs. Dazu 
>wurde ein Leistungsverzeichnis erstellt, in dem der Untersuchungsumfang 
>beschrieben und die Untersuchungsgegenstaende definiert wurden. 
>Anschliessend wurde ein Interessenbekundungsverfahren fuer einen 
>beschraenkten Teilnahmewettbewerb oeffentlich ausgeschrieben. Am 23. Juli 
>2003 erfolgte der Zuschlag an die Firma Kienbaum. Die 
>Wirtschaftlichkeitsuntersuchung wurde am 1. September 2003 begonnen und am 
>30. Dezember 2003 abgeschlossen.
>
>Das Ziel der Wirtschaftlichkeitsuntersuchung war es, im Rahmen einer 
>Kosten-Nutzen-Analyse die Wirtschaftlichkeit eines Umstiegs auf MARC21 und 
>AACR2 abzuschaetzen und dabei die zu Beginn des Projekts aufgestellten 
>Migrationsmodelle zu betrachten. Dazu gehoerte die Ermittlung von Kosten 
>und Nutzen fuer einen Verbleib bei RAK und MAB sowie fuer einen 
>Parallelbetrieb, d.h. die gleichzeitige Anwendung von MAB und MARC 
>waehrend einer Uebergangszeit.
>
>Mit freundlichen Gruessen
>Susanne Oehlschlaeger
>
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>Susanne Oehlschlaeger
>Die Deutsche Bibliothek
>Arbeitsstelle fuer Standardisierung
>Adickesallee 1
>D-60322 Frankfurt am Main
>Telefon: +49-69-1525-1063
>Telefax: +49-69-1525-1010
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