[rak-list] AACR in Leipzig

Heidrun Wiesenmueller wiesenmueller at WLB-STUTTGART.DE
Thu Apr 1 09:08:04 CEST 2004


Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,

ich bin gebeten worden, eine Zusammenfassung der Veranstaltung
des Standardisierungsausschusses auf dem Leipziger
Bibliothekskongress zu liefern, wobei ich wie stets nur meine
subjektiven Eindruecke und Gedanken wiedergeben kann. Der Text
ist diesmal leider arg lang geworden... sorry!

1. Ansetzungen:
Wie Luise Hoffmann in ihrem Eingangsreferat ausfuehrte, duerfte
die Uebernahme englischsprachiger Ansetzungen bei einem
Umstieg "kaum konsensfaehig" sein. Fuer mich bleibt daher
unverstaendlich, warum bei der Wirtschaftlichkeitsuntersuchung
genau diese voellig unrealistische Annahme zugrunde gelegt
wurde. Bei den beiden anderen Optionen (originalsprachlich oder
deutsch) waere die Moeglichkeit der Fremddatenuebernahme - dies
sieht Frau Hoffmann durchaus - deutlich eingeschraenkt.
Desungeachtet argumentierte sie im weiteren Verlauf der
Veranstaltung wiederholt mit der Datenuebernahme: 60 % aller DB-
Titelsaetze seien in OCLC vorhanden; eine durchschnittliche UB
koenne gar mit gegen 100 % rechnen (als Gegenbeispiel seien die
regionalen Pflichtexemplarbibliotheken angefuehrt, deren Bestand
zu einem betraechtlichen Teil nicht einmal bei der DB, geschweige
denn im Ausland vorhanden ist). Deutschsprachige Ansetzungen
haetten - so Frau Hoffmann weiter - den Vorteil einer Annaeherung
an RSWK und RAK-OeB; auch die Benutzer wuenschten sich
deutsche Namensformen. Armin Stephan wies jedoch in der
Diskussion darauf hin, dass die Ansetzungssprache auch
unabhaengig von einem Umstieg diskutiert werden koennte.

2. Vorteile fuer die Benutzer:
Im Projekt sollte auch untersucht werden, ob fuer die Benutzer ein
RAK- oder ein AACR-Katalog 'besser' ist. Die Frage scheint rein
akademisch, da wir ja nicht auf der 'gruenen Wiese' anfangen
koennen, sondern nach einem Umstieg in jedem Fall einen
heterogenen Datenbestand haetten. Auch ueber die angewandte
Methodik koennte man trefflich streiten (ich erinnere an den
Vorschlag von Herrn Ziegler: <http://www.ub.uni-
dortmund.de/listen/inetbib/msg24027.html>). Im Umstiegsprojekt
beschraenkte man sich auf eine Umfrage an zehn Bibliotheken, die
u.a. ergab, dass primaer nach Titelstichwoertern und Personen
gesucht wird. AACR sei - so Frau Hoffmann - folglich 'besser', da
es in diesen Bereichen mehr Eintragungen vorsehe. In meinen
Augen ist dies allerdings kein Argument fuer einen Umstieg auf
AACR, sondern vielmehr eines fuer die Weiterentwicklung der RAK
- denn schon die RAK2-Entwuerfe sahen viele Moeglichkeiten fuer
zusaetzliche Eintragungen vor. Weiter wurde argumentiert, dass
die Suche nach Einzelbaenden eines mehrbaendigen Werkes unter
AACR leichter sei. Pauschal kann man dies m.E. aber so nicht
sagen, da der Rechercheerfolg auch sehr vom eingesetzten OPAC
und der jeweiligen Erfassungspraxis abhaengt. Ein weiterer Vorteil
fuer die Benutzer sei, dass bei Sammelwerken nach AACR die
enthaltenen Aufsaetze in einer Fussnote angegeben wuerden.
Jedoch kann man Aufsaetze natuerlich auch nach RAK
erschliessen und als UW-Saetze in die Verbundkataloge
einbringen, wie das vielfach bereits praktiziert wird. Ob man
Aufsatzkatalogisierung betreibt, haengt also nicht vom
verwendeten Regelwerk ab, sondern von den vorhandenen
Ressourcen und dem bibliothekspolitischen Willen. Ueberdies zeigt
eine kleine Stichprobe mit deutschen Sammelwerken aus meinem
Buecherschrank, dass die Aufsatzerschliessung in den
angloamerikanischen Bibliotheken (sofern sie die Werke
ueberhaupt im Bestand hatten) keineswegs durchgaengig
praktiziert wird.

3. Kosten eines Umstiegs:
Breiten Raum nahm die Vorstellung und Diskussion der Kienbaum-
Studie zur Wirtschaftlichkeit eines Umstiegs ein. Ich habe dazu
bereits einige kritische Anmerkungen gemacht (<http://www.ub.uni-
dortmund.de/listen/inetbib/msg23938.html>). Die in der Diskussion
eingebrachten Fragen und Antworten haben fuer mich den
Eindruck bestaetigt, dass viele Kosten, die bei einem Umstieg
anfallen wuerden, unberuecksichtigt geblieben sind. So berichtete
eine Kollegin aus einem Kienbaum-Workshop, man habe dort
intensiv ueber Geschaeftsgangsnachteile eines Umstiegs diskutiert
und sich darauf geeinigt, diese nicht durch einen Nutzenabschlag,
sondern bei den Kosten zu beruecksichtigen - in der Studie habe
sie diese aber nun nirgends finden koennen. Ein konkretes
Beispiel, von einer anderen Diskussionsteilnehmerin eingebracht:
Wenn, wie von Frau Hoffmann ausgefuehrt, in amerikanischen
Bibliothekssystemen die Ausleihe ueber "item records" in den
Datensaetzen gesteuert wird, so muessten diese in saemtlichen
Bibliotheken fuer den kompletten Bestand zunaechst manuell
angelegt werden. Auch im Bereich der Bestellkatalogisierung
waeren Zusatzkosten zu erwarten - bei einem Katalogabbruch
muessten naemlich auch Erwerbungsdaten neu verknuepft werden.
Ich selbst habe gefragt, ob z.B. erhoehte Kosten bei der
Standardisierungsarbeit oder der Normdatenpflege (z.B. Einsatz
von Fremdfirmen zum regelmaessigen Update des Datenmaterials)
einberechnet sind. Antwort: Grundsaetzlich sei man davon
ausgegangen, dass die laufenden Kosten vor und nach einem
Umstieg im wesentlichen gleich sind. Um auf der sicheren Seite zu
sein, habe man jedoch generell Kosten immer eher zu hoch als zu
niedrig angesetzt (als Beispiel nannte der Kienbaum-Mitarbeiter
uebrigens ausgerechnet die Regelwerksschulungen: 20 Tage seien
da doch sehr hoch gegriffen...!). Ausserdem sei die Studie im
Kosten-Nutzen-Verhaeltnis so eindeutig ausgefallen, dass etwaige
kleinere Korrekturen fuer das Ergebnis keine Rolle spielen
wuerden.

4. Nutzen eines Umstiegs:
Auch meine Skepsis bezueglich des errechneten Nutzens hat die
Veranstaltung nicht zerstreuen koennen. Ein Beispiel: Als ein
Nutzenkriterium fuer den Umstieg wurde gewertet, dass die
Katalogisierung unter AACR "einfacher" sei. Auf Nachfrage
erlaeuterte Frau Hoffmann, AACR-Katalogisierung sei deswegen
einfacher, weil man nicht verknuepfen muesse. Man koennte
jedoch genausogut argumentieren, AACR sei schwieriger als RAK
(z.B. Individualisierung, eher inhaltliche als formale
Entscheidungen, mehr Eintragungen).
Quantifiziert wird der zu erwartende Nutzen durch sog.
"Nutzwertpunkte". Wie diese errechnet wurden, blieb auch in
Leipzig ungeklaert. Ein Kollege fragte nach dem Algorithmus, mit
dem der Nutzen fuer die OeBs berechnet worden sei (laut
Kienbaum ueberwiegt naemlich ueberraschenderweise auch bei
mittleren und grossen OeBs der Nutzen, nur fuer kleine OeBs sei
der Umstieg unwirtschaftlich). Antwort: Man habe den Algorithmus
verwendet, der auch sonst bei Untersuchungen im oeffentlichen
Bereich gaengig sei.

5. Zeithorizont:
Die Kienbaum-Studie geht davon aus, dass die "wissenschaftlichen
Bibliotheken inkl. Verbuende (sic!) gleichverteilt innerhalb des
15jaehrigen Betrachtungszeitraumes" umsteigen (S. 22 der Studie).
Herr Eversberg wies darauf hin, dass dies eine gaenzlich
unrealistische Annahme ist - beim Umstieg eines Verbunds
muessten schliesslich alle zugehoerigen Bibliotheken mitziehen.

6. Stillwater-Report:
Patricia Burch stellte den Bericht zur Stabilitaet der Zielsysteme
vor. Auch dazu habe ich schon einige Anmerkungen gemacht
(<http://www.ub.uni-dortmund.de/listen/inetbib/msg24023.html>)
und u.a. die Frage gestellt, wie sehr nach einem Umstieg deutsche
Interessen beruecksichtigt werden koennten. Leider war dies nicht
Teil der Aufgabenstellung fuer Stillwater. Frau Hoffmann verwies
aber auf das Beispiel der russischen Bibliotheken, die Antraege
beim Joint Steering Committee (in dem nur angloamerikanische
Mitglieder vertreten sind) gestellt haetten.

7. Alternativen zum Umstieg:
Nachdem die Veranstaltung bis dato ganz von der
Umstiegsdiskussion beherrscht gewesen war, lenkten die beiden
letzten Vortraege den Blick darauf, dass es neben der
Internationalisierung 'mit der Brechstange' auch eine alternative
Moeglichkeit gibt, um etwa deutsche Daten staerker in
internationale Portale einzubringen, wie dies Herr Dugall forderte.
Besonders erhellend war Frau Hengel-Dittrichs Vortrag ueber das
Projekt einer virtuellen internationalen Normdatei fuer
Personennamen. Gudrun Henze berichtete unter dem Titel "Auf
dem Weg zu einem internationalen Regelwerk" ueber die
Ergebnisse der Frankfurter Katalogisierungskonferenz vom
vergangenen Sommer. Dass Deutschland bei beiden
Entwicklungen an vorderster Front beteiligt ist, sollte uns
ermutigen. Es zeigt, dass wir eben keineswegs isoliert auf einer
einsamen Insel sitzen, sondern vielmehr unsere
Katalogisierungstradition zum allgemeinen Nutzen selbstbewusst
einbringen koennen. Umso bedauerlicher finde ich es, dass in der
Kienbaum-Studie nur die Optionen 'Umstieg' und 'Nicht-Umstieg'
betrachtet wurden, nicht jedoch die Moeglichkeit eines 'dritten
Weges' mit moderater Anpassung der RAK an die AACR bei
gleichzeitiger aktiver Mitarbeit an internationalen Entwicklungen.

8. Abschlussstatement:
Zum Schluss der Veranstaltung betonte Herr Dugall die politische
Komponente eines Umstiegs: Typisch deutsche Entwicklungen
haetten auf Dauer keine Chance, der wissenschaftliche Bereich
habe seine Entscheidung laengst getroffen. Er verwies auf die
Einfuehrung von Bachelor- und Master-Studiengaengen - da
wuerde auch keiner nach den Kosten fragen. Und "Wind of change"
- einer der erfolgreichsten Songs einer deutschen Popband
ueberhaupt - habe schliesslich auch nicht "Wind der Aenderung"
geheissen...!
Den Vergleich mit den Studiengaengen finde ich interessant, aber
hinkend: Das Ziel hier ist eine internationale Vergleichbarkeit, die
bislang auf Grund echter Inkompatibilitaeten der beiden Systeme
(zum Bachelor gibt es eben kein deutsches Pendant) in der Tat
erschwert war. RAK, AACR und die uebrigen nationalen
Regelwerke trennt jedoch kein vergleichbar tiefer Graben. Auch
wenn sie sich in vielen Details unterscheiden, so beruhen sie
doch auf gemeinsamen Grundlagen, die auf internationalen (!)
Katalogisierungskonferenzen erarbeitet wurden. Fuer eine weitere
(durchaus erwuenschte) Annaeherung brauchen wir daher
m.E. keine Revolution (d.h. Umstieg), sondern eine Evolution
(d.h. sinnvolle Weiterentwicklung der RAK).

Mit freundlichen Gruessen
Heidrun Wiesenmueller

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Heidrun Wiesenmueller M.A.
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