[rak-list] Re: Umstieg auf AACR2 (lang)

Roger Brisson brisson at fas.harvard.edu
Mon Dec 17 19:34:12 CET 2001


Liebe KollegInnen, ich hoffe, dass ich mich als nicht deutscher
Kataloger zum Thema AACR2 hier äußern darf und dazu kurz ein paar
persönliche Gedanken weitergeben kann. Erstens, nach vielen Jahren als
AACR2 Kataloger hier in den USA kann ich mit Zuversicht berichten, dass
ich noch lebe—AACR2 ist nicht perfekt, aber es ist doch nicht so
schlimm, wie es an manchen Orten dargestellt wird. Im Hinblick auf die
Einführung von AACR2 in Deutschland meine ich, dass Bernhard genau das
richtige Stichwort getroffen hat: Internationalisierung. Wir können
ganze Bücher schreiben, Analysen mit Vor- und Nachteilen zwischen RAK
und AACR2 schreiben, das wäre sicherlich eine interessante akademische
Übung, aber in der Praxis geht es um den möglichst effizienten Austausch
von bibliographischen Daten und Systemen über Landesgrenzen hinaus. Wir
wissen durch Erfahrung, dass Konvertierung teuer und umständlich ist. In
den internationalen Verbundskatalogen OCLC und RLIN gibt es jetzt je
weit über 50 Millionen bibliographische Titeldaten. Die Daten in diesen
Katalogen sind konform aufgebaut in MARC und AACR2, und in der Regel
stehen sie unter Authority Control (individualisierte Normierung). Sie
sind auch weltweit zugänglich.
   Es ist klar, dass AACR2 als englischbezogenes Regelwerk
revidierungsbedürftig ist, bevor es wirklich als ein
mehrsprachig-internationales Regelwerk hervortreten kann. Aber wie wird
so ein Regelwerk aussehen? Das wissen wir noch nicht, und nur durch
gemeinsame Zusammenarbeit können wir so ein Regelwerk erarbeiten. Als
internationales Regelwerk hat AACR2 eine kräftige Eigendynamik
entwickelt, und es gibt inzwischen zahllose internationalen Datenbanken,
Produkte und Projekte, die AACR2 (und MARC) verwenden. AACR2 ist als
Regelwerk in viele Sprachen übersetzt worden, und in mehreren Länder
(auch in Europa) ist es als offizielles Landesregelwerk anerkannt. Diese
Länder haben wohl auch erkannt, dass trotz der noch englischsprachigen
Betonung man mit AACR2 arbeiten kann. Monika hat schon mit Recht
angedeutet, dass landesspezifische Änderungen in AACR2 erlaubt sind, und
Länder wie die Schweiz (die sehr schöne MARC/AACR2 Katalogisate von
deutschen Werken jetzt herstellen, und für alle Bibliotheken weltweit
direkt in RLIN verfügbar sind). Österreich, die Schweiz, Finnland, usw,
erstellen jetzt Katalogisate nach AACR2 Prinzipien in ihren
Landessprachen. In der Tat ist AACR2 ein flexibles Regelwerk, das
relativ leicht zu erlernen ist. Meine Hoffnung ist, dass, wenn ein
einflussreiches Land wie Deutschland auch an dieser AACR2 Gemeinschaft
teilnimmt, wir AACR2 wirklich in ein internationales Regelwerk umwandeln
können, von ein AACR2 zu ein 'ICR2' (International Cataloging Rules 2,
wobei wir den '2' erstmals weglassen können!).
   Man hat gefragt, was die Kosten sind, um in Deutschland auf AACR2
umzustellen, aber man kann ebenso berechtigt fragen, was sind die
Kosten, es nicht umzuändern? Um es historisch auszudrücken, was hat es
deutsche Bibliotheken an Millionen Mark gekostet, um über die letzten 30
Jahren MAB anstatt MARC zu verwenden? Hat MAB den Benutzern wesentliche
Vorteile gegenüber MARC gegegeben, um diese Kosten zu rechtfertigen?
Während dieses Zeitraums mussten nicht nur alle Bibliothekssysteme
besonders für MAB entwickelt werden, sondern mussten auch alle MARC
Daten mühsam konvertiert werden. Obwohl die Library of Congress und
andere amerikanische Bibliotheken Millionen von gar-nicht-so-schlechten
Katalogisaten in MARC und AACR2 hergestellt haben, mussten alle deutsche
Bibliotheken, die mit MAB und RAK gearbeitet haben, bis vor kurzem
überwiegend wieder selbständig in diesen Formaten katalogisieren. Um
1970 haben die leitenden Persönlichkeiten des
MARC-Entwicklungskommittees (mit Henriette Avram) der Deutschen
Bibliothek stark angeregt, sich an der gerade neu entstehenden
internationalen MARC Gemeinschaft auch zu beteiligen. Damals meinten
aber die deutschen Fachleute, dass ihr noch-nicht entwickeltes MAB
System Hierarchien besser als MARC ausdrücken und verwalten könnte. Das
war (und ist) richtig, aber war dieser Vorteil die Millionen Mark wert?
Und könnte man doch nicht Hierarchien auch in MARC ausdrücken (ja, wenn
nicht so strukturintegriert)? Man kann auch so mit RAK fragen: sind die
Regeln für allgemeine bibliographische Beschreibungen in RAK wirklich so
viel besser als in AACR2? Ich glaube nicht. Ich arbeite jeden Tag mit
der Konvertierung von DDB RAK Dateien ins AACR2 hier an der Harvard
College Library, und ich kann mit Zuversicht sagen, dass beide Arten von
Dateien gut als 'Surrogate' (als metaphorische Stellvertreter) für ein
Werk funktionieren können, wenigstens für die allgemeine
bibliographische Beschreibung.
  Es gibt aber eindeutige Unterschiede. Wie andere in der Diskussion
betont haben, ist das Prinzip von Authority Control (Namen-Normierung)
ein Grundfundament von AACR2. Namenansetzung und Individualisierung sind
in Authority Control unzertrennlich. Wie wir unten sehen können, spielt
dieses Grundprinzip eine wesentliche Rolle in der Benutzbarkeit eines
OPACs:

** Hier folgt eine Recherche des GBV Verbundkatalogs (mit der
Personennamen-Recherche 'schmidt, johann'):

Suche (und) (Person, Autor <PER>) schmidt, johann 
Es sind 2395 Treffer.  (Tipp: Stellen Sie die Sortierung auf Relevanz
ein.) 
Dies sind die Treffer 1 - 10...

** Also, ein Benutzer muss hier knapp 2.400 Treffer durcharbeiten, um an
ihr/sein Buch heranzukommen. Jetzt, ein Recherche (Personenname 'smith,
john') von einem beliebige amerikanischen OPAC:

1) SMITH JOHANNE MARIE [1] 
2) SMITH JOHN [5] 
3) SMITH JOHN 1563-1616 [1] 
4) see related headings for: SMITH JOHN 1567-1640 
5) SMITH JOHN 1580-1631 [29] 
6) see related headings for: SMITH JOHN 1580-1631 CAPTAIN JOHN SMITH
1988 
7) see related headings for: SMITH JOHN 1580-1631 COMPLETE WORKS OF
CAPTAIN JOHN SMITH 1580-1631 
8) SMITH JOHN 1580-1631 OBSERVATIONS AND DISCOUERIES OF CAPTAIN IOHN
SMITH [1] 
9) see related headings for: SMITH JOHN 1580-1631 SELECT EDITION OF HIS
WRITINGS 1988 
10) SMITH JOHN 1618-1652 [4] 
11) SMITH JOHN 1630-1679 [1] 
12) SMITH JOHN 1659-1715 [2] 
13) SMITH JOHN 1681-1766 [1] 
    
Diese Liste ist noch viel länger als hier angegeben, aber Sie sehen,
dass die Liste rational aufgebaut ist (auch mit zahlreiche 'siehe auch'
und 'siehe' Vermerke). Was man hier gelistet sieht, sind die
eigentlichen Index-Eintragungen für alle die John Smiths, die im Katalog
stehen. Diese Liste ist wegen Authority Control enstanden.
   Wenn ich diese Unterschiede in Vorträgen in Deutschland erwähne, wird
oft von deutschen Bibliothekaren erwidert, 'Das ist schön, aber was das
für deutschen Bibliotheken kosten wird! Wir haben nicht das Geld, wie
amerikanische Bibliotheken haben.' Ich antworte, dass deutsche
Bibliotheken  dann die Arbeit an tausende Bibliotheksbenutzer
'schieben', damit die Benutzer sich selbst mit diesem Chaos von
Namen-Indexen auseinandersetzen. Ist das richtig? In der Tat,
amerikanische Bibliotheken sehen gerade diese Aufgabe, die
Namen-Individualisierung, als eine von ihren Kerndiensten für
Bibliotheksbenutzer.
   Über die letzten zwei Jahrhunderte haben Bibliotheken als leitendes
Prinzip gelernt, dass zusammenzuarbeiten besser sei, als allein zu
gehen. Die deutsche Bibliotheksgeschichte ist zum Beispiel voll von
Professoren und anderen Genies, die meinten, dass sie das perfekte
Klassifikationssystem entwickelt haben. Die deutsche
Bibliothekslandschaft ist heute immer noch voll von diesen wunderbaren
Klassifikationssystemen, zum Leiden der Benutzer. Das Library of
Congress Klassifikationssystem ist längst nicht ideal (es ist eigentlich
bewußt sehr praxisbezogen), aber weil mehr oder weniger alle
amerikanischen Forschungs- und Universitätsbibliotheken dieses System
verwenden, ist es für einen Benutzer möglich, auf der Rückseite von fast
allen amerikanisch-veröffentlichten Büchern die LC Class Number
anzuschauen. Mit dieser Nummer können sie in eine beliebige
Uni-Bibliothek hineingehen, um es, ohne in den OPAC zu schauen,
wohlgeordnet auf dem Regal zu finden. Tausende von deutschen Studenten,
die jährlich in den USA studieren, erleben diese Art von
Bibliotheksdienst, und sie erkennen relativ schnell, die daraus
enstandenen Vorteile.

    Mit freundlichem Gruß,
                      Roger Brisson

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Roger Brisson
Head, Germanic Division
HCL Technical Services
Harvard University
625 Massachusetts Avenue
Cambridge, MA  02139
Voice: 617.384.7158
Fax: 617.384.7170
Email: brisson at fas.harvard.edu
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