[rak-list] Was wurde aus dem Staatsbürgerprinzip?

vonRueden Sybille S.vonrueden at zbw.eu
Mon Sep 29 11:15:45 CEST 2014


Liebe RAK-Interessierte,

... "RDA-Interessierte" müsste es jetzt heißen, aber das geht nicht so leicht über die Lippen. Ich beginne gerade erst, RDA zu lesen und komme über eine der Grundregeln nicht hinweg. RDA 0.4.3.7 besagt:
"Wenn der Name einer Person oder einer Familie aus mehreren Teilen besteht, sollte der Teil, der als erstes Element des bevorzugten Namens gewählt wurde, die Verwendung oder Praxis des Landes und der Sprache widerspiegeln, welche am engsten mit der Person oder der Familie in Verbindung stehen."
Das Stichwort "Praxis des Landes" erinnert an das in RAK für die modernen europäischen Namen geltende Staatsbürgerprinzip und in der Tat wurde die oben zitierte Regel 2008 in dieser Liste als "modernisiertes Staatsbürgerprinzip" bezeichnet.
Als modern gilt dabei wohl, dass das Kriterium "Staatsbürgerschaft"  nicht vorkommt. Die Kriterien sind  "Sprache" und "Land".
Auch wenn man nicht in jedem Einzelfall die Staatsbürgerschaft einer Person  ohne weiteres bestimmen konnte, war doch die Regel selbst klar und eindeutig. Ein- und dasselbe Kriterium (die Staatsbürgerschaft) war für die Ansetzung maßgeblich. Bei den Kriterien "Sprache" und "Land" ist dies nicht der Fall. Es handelt sich um zwei verschiedene, also möglicherweise divergierende Kriterien, die zu ein- und derselben Bedingung zusammengefasst wurden. Die Regel setzt offenbar voraus, dass es eine Übereinstimmung zwischen der Praxis des zu der Person gehörenden Landes und ihrer Sprache gibt. "Sprache" und "Land" sind dabei sehr allgemein definiert. Auf einen türkischen Lyriker, der in Deutschland lebt oder einen nach Schweden ausgewanderten deutschen Schriftsteller lässt sich die Regel nicht ohne weiteres anwenden. Durch die offene Definition "welche am engsten mit der Person in Verbindung stehen" kann man die Regel zurechtbiegen und sagen, dass die Türkei bzw. Deutschland hier die Länder sind, zu denen die Person die engste Verbindung hat.  Möglicherweise stimmt das aber gar nicht. Es bleibt die Erkenntnis, dass die Regel auf einer falschen Voraussetzung beruht.

Später heißt es unter RDA 9.2.2.10.1 zu den zusammengesetzten Namen:
"... erfassen Sie als erstes Element den Teil des Namens, unter dem die Person in Nachschlagewerken in der Sprache der Person oder dem Land, in dem sie wohnt oder tätig ist, aufgeführt ist." (Die Regel entspricht AACR 22.5.C.2.)
An dieser Stelle ist aus dem "und" ein "oder" geworden. Die Regeln der Sprache und die Konventionen des Landes werden zudem über Nachschlagewerke definiert.  Und drittens wird "Land" jetzt eingegrenzt auf das "Land, in dem sie [die Person] wohnt oder tätig ist".
Ich habe den Eindruck, dass RDA mit dem Prinzip "Sprache und Land" nicht sorgfältig umgeht.
"Und" ist etwas anderes als "oder". Und das Land, in dem eine Person lebt, hat grundsätzlich nichts mit ihrer Sprache zu tun.

RDA 9.2.2.11.1 zu den Präfixen lautet ähnlich:
" Bestimmen Sie die übliche Verwendung durch Konsultieren von alphabetisch geordneten Listen in der Sprache der Person oder aus dem Land, in dem die Person wohnt oder tätig ist." (Die Regel entspricht AACR 22.5D1.)

Gelten nun die Regeln für die Sprache der Person oder die Konventionen des Landes? Genauer gesagt: Soll man ein Nachschlagewerk in der Sprache der Person oder eines aus ihrem Land heranziehen? Kann man wahlweise das eine oder das andere nehmen und so ggf. zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen? Ein amerikanischer Linguist lehrt in Bielefeld und heißt "von Berg". Im deutschen Telefonbuch steht er unter "B" wie "Berg", im englischen Lexikon unter "V" wie "von".

Oder soll die Tatsache, dass die Sprache in der Bedingung der Regel zuerst genannt wird, suggerieren, dass immer zuerst die Sprache maßgeblich ist und erst im Zweifelsfall das Land? (Unter AACR 22.5D1 liegt der Schwerpunkt eindeutig auf der Sprache.)

Was ist die Sprache der Person?
Unter RDA 9.14.1.1. heißt es: "Die Sprache der Person ist eine Sprache, die eine Person für ihre Veröffentlichungen ... verwendet."

Durch diese (m.E. falsche) Definition von "Sprache der Person" wird die Regel noch unpraktikabler. Wissenschaftler publizieren weltweit in Englisch. Ist ihre Sprache dadurch Englisch?  Soll der französische Mathematiker "de Saint Luc", der notgedrungen nur in Englisch veröffentlicht und seinen Wohnsitz leider in England nehmen musste, jetzt unter "D" wie "De" im Katalog stehen? Und was ist, wenn er englisch schreibt, aber in Paris wohnt? Ist dann beides richtig - sowohl die Eintragung unter "D" als auch die unter "S"? Oder setzt man vielleicht voraus, dass man den Franzosen im englischen Mathematiker-Lexikon schon "richtig" unter "S" eingetragen hat?


Auf Folie 95 der Powerpointschulung des GBV erscheint die Regel 9.2.2.11.1  in einer  weiteren Variante:
" Der normierte Sucheinstieg wird  auf Basis der Regelungen für die Landessprache gebildet, wo sich der Lebensmittelpunkt der Person befindet und in der die Person veröffentlicht."

Die Kriterien "Land" und "Sprache" hat man hier offenbar zur "Landessprache" zusammengefasst. Gleichzeitig bezieht man sich wieder auf die Grundregel RDA 0.4.3.7 ; denn aus dem Land, in dem eine Person wohnt oder tätig ist, wurde der dehnbare "Lebensmittelpunkt" und zugleich wird vorausgesetzt, dass die Person immer auch in der Sprache "ihres" Landes veröffentlicht.

Zeigen nicht schon allein die vielen verschiedenen Formulierungen, dass niemand so recht weiß, was hier gemeint ist?

Anhang  F

Die Sonderregeln in den Anhängen F.1 - F.10 beziehen sich - abweichend von der Grundregel - jeweils auf die Sprache des Namens und betreffen hauptsächlich nicht-europäische und alte Namen. Gleichzeitig fällt hier aber auch der Begriff "nationaler Kontext" und es folgt ein Hinweis auf die Veröffentlichung "Names of persons". Diese orientiert sich grundsätzlich am Staatsbürgerprinzip.

Anhang F.11 enthält Sonderregeln für Namen mit Präfixen und ist nach Sprachbezeichnungen geordnet. Es wird aber nicht gesagt, um welche Sprache es sich handelt: um die Sprache der Person oder die des Namens. Die Beispiele lassen zum Teil vermuten, dass die Sprache der Person gemeint ist, jedoch spielt zugleich das  Kriterium "Staatsbürgerschaft" mit hinein, wenn z.B. von einem "Niederländer" die Rede ist.
Die geplante D-A-CH-Regelung für Deutsch unter F.11.6 steht in der Erfassungshilfe EH-P-05. Sie gilt für "deutsche oder in einem deutschsprachigen Land lebende Personen". Hier tritt also an die Stelle der Sprache wieder die Staatsbürgerschaft ("deutsch"). Deutsche werden dabei gleichgesetzt mit  Personen, die in einem deutschsprachigen Land leben. So wie der amerikanische Linguist aus Bielefeld. Oder meinte man etwa mit "in einem deutschsprachigen Land lebend" nur die Österreicher und die Schweizer?

Also, mir ist das alles unklar und ich würde vorschlagen, das aus RAK bekannte Staatsbürgerprinzip in RDA einzuführen.
Natürlich schreiben sehr viele Autoren in ihrer Muttersprache oder einer adaptierten, bevorzugten Sprache.  Sehr häufig ist diese Sprache zugleich die Sprache des Landes, in dem sie leben und arbeiten. Das trifft insbesondere auf  Schriftsteller zu.
Andererseits sind Menschen überall auf der Welt zu Hause. Sie kommunizieren in Englisch. Ihre Staatsbürgerschaft und ihre nationale Identität lässt sich nicht immer ohne weiteres feststellen. Das gilt insbesondere für Wissenschaftler.
Am besten wäre es, wenn jeder Autor seinen Namen selbst in die GND oder eine andere Normdatei eintragen würde. Grundregel für die Erfassung lebender Personen wäre dann der "selbst gebrauchte" (RAK) und nicht der "gemeinhin bekannte"  (RDA) Name. Wenn das nicht möglich ist, braucht man das Staatsbürgerprinzip. Die Staatsbürgerschaft ist ein eindeutiges Merkmal der Person. "Sprache"  ist kein eindeutiges Merkmal: Muttersprache, bevorzugte Sprache, Wissenschaftssprache, Landessprache und die Sprache des Namens können abweichen.  "Land" ist ebenfalls kein eindeutiges Merkmal: Herkunftsland, Wohnort und Wirkungsland können abweichen. Die Staatsbürgerschaft der Person ist häufig identisch mit ihrer nationalen Identität und die Wahrscheinlichkeit, dass der Name der Person nach dem Staatsbürgerprinzip in der von ihr gewünschten Form erfasst wird, hoch.
Im Zweifelsfall muss der Katalogisierer entscheiden. Das sollte dann auch so offen formuliert werden.

Mein Vorschlag:
Bildung des bevorzugten Namens moderner Personen nach dem Staatsbürgerprinzip. (Untergeordnete Regeln wie in RAK können festgelegt werden.) Der amerikanische Linguist mit dem deutschen Namen steht dann unter "V" wie "von", auch wenn er in Bielefeld wohnt. Der französische Mathematiker steht aber nicht unter "D" wie "de", auch wenn er nur englisch schreibt und seinen Lehrstuhl in Cambridge hat.

Zweifelsfallregelung:
Lässt sich die Staatsbürgerschaft einer Person nicht eindeutig bestimmen, richtet man sich i.d.R. nach den Konventionen des Landes, zu dem die Person den engsten Bezug hat. Das Land mit dem engsten Bezug zur Person ist  häufig, aber nicht zwingend das Land, in dem die Person lebt.  Bei der Auswahl des Landes kann die Sprache der Person oder die Sprache ihres Namens als weiteres Kriterium verwendet werden. Die Sprache einer Person ist häufig, aber nicht zwingend die Sprache, in der sie veröffentlicht .
Beisp.:  Verfasser portugiesischer Texte aus Brasilien;  Staatsbürgerschaft unbekannt. Der Katalogisierer entscheidet sich,  den Namen nach den in Brasilien geltenden Regeln zu erfassen.
Beisp.:  Verfasser englischer mathematischer Texte mit Wohnsitz  London, Name französisch, geboren in Frankreich;  hat die französische und die britische Staatsbürgerschaft.  Der Katalogisierer entscheidet sich, den Namen nach den in Groß- Britannien geltenden Regeln anzusetzen und erfasst den Wirkungsort im Normdatensatz.
Beisp.:  Verfasser englischer mathematischer Texte mit Wohnsitz  London, Name französisch, geboren in Frankreich;  Staatsbürgerschaft unbekannt.  Der Katalogisierer entscheidet sich, den Namen nach den in Frankreich geltenden Regeln anzusetzen und erfasst den Geburtsort im Normdatensatz.
Beisp.: Internet-"Blogger" mit unbekanntem Wohnsitz und unbekannter Staatsbürgerschaft,  schreibt Artikel über Paris in fehlerhaftem Englisch, Nachname französisch, Vorname englisch. Der Katalogisierer entscheidet sich, den Namen nach den in Frankreich geltenden Regeln anzusetzen und erfasst das Thema im Normdatensatz.

Was meinen Sie dazu? Habe ich irgendetwas einfach nicht verstanden? Oder denken Sie, dass das Sprach-Land-Prinzip der RDA - bezogen auf die  Namen von Personen - für die Praxis nicht so wichtig ist? Stört Sie die unklare Formulierung nicht? Wie setzen Sie in der Praxis an? Weiterhin stillschweigend nach dem Staatsbürgerprinzip? Oder nach LCAuth? Oder reichen einfach die Beispiele in den Erfassungshilfen?

Viele Grüße

Sybille von Rüden


Sybille von Rüden

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