AW: [rak-list] Winkelklammer und Berlin-Frage

Rohde Bernd Bernd.Rohde at stub.unibe.ch
Wed Feb 8 13:36:19 CET 2006


Liebe Kolleginnen und Kollegen,

ganz abgesehen vom konkreten Fall, zeigt sich hier ein Problem, das vielleicht bei einem Umstieg von MAB auf MARC,
spätestens jedoch bei weiteren Angleichungen der Ansetzungen von Körperschaften eine Rolle spielt:
Ich nenne ihn mal den "Fall Deutschland 1945-1990".

Man hat schon früher mal festgelegt (weiss ich noch dunkel von meiner Ausbildung),
dass nach den RAK "Deutschland" vor 1990 (ab 1949) unterschieden wird in
a) Deutschland, Bundesrepublik und b) Deutschland, DDR
und für alles ab 1990, wo diese Gebietskörperschaft auftaucht, nur mit "Deutschland" angesetzt wird
(was u.a. dazu führt, dass das Grundgesetz, obwohl es jetzt ja auch für "Deutschland" gilt,
immer mit "Deutschland, Bundesrepublik" versehen wird, da es ja vor 1990 von der vorhergehenden Gebietskörperschaft stammt,
das heutige Deutschland also rein bibliothekarisch keine Verfassung besitzt
- bitte korrigieren, sollte ich da etwas falsch in Erinnerung haben).

Das mag zwar einer gewissen "political correctness" entsprechen, es so darzustellen, dass man die Wiedervereinigung von 1990
als Vereinigung zweier gleichberechtigter Staaten ansieht und für die Zeit ab 1990 eine "neue" Gebietskörperschaft Deutschland (ohne Zusatz)
ansetzt, allerdings ist man ausserhalb Deutschlands anscheinend weniger konsequent. Das betrifft auch den angloamerikanischen Raum, 
dem man sich ja so gerne angleichen möchte.
Ganz abgesehen von der Tatsache: Meine Geographie- und Geschichtskenntnisse, was wann ein Staat der USA wurde,
oder als CSA separat waren etc., sind auch nicht besonders herausragend und erfodern zusätzliche Recherche in Nachschlagewerken.
Wieviele KollegenInnen im angloamerikanischen Sprachraum können ohne jeglichen Fehler auseinanderhalten, was was in Deutschland
im Zeitraum von 1945 bis 1990 war? Wenn man schon beim LoCNA-Eintrag für König Wilhelm II. von Württemberg schreibt
"Not to be confused with: Kaiser Wilhelm II von Wu?rttemberg, in power at the same time", dann bin ich confused und es stellt sich mir die Frage,
wieviel klarer dieser neuere Zeitraum der deutschen Geschichte sich im Blick aus Übersee darstellt.

Jedenfalls ist es interessant, dass im Katalog der LoC Ausgaben des Grundgesetzes, egal ob vor oder nach 1990 mit "Germany" versehen werden.
Obwohl man auch in den LoCNA unterschiedliche Eintragungen für "Germany (West)" und "Germany (East)" findet!
Ja, sogar das "Gebiet unter Allierter Besatzung", dass nach GKD 1949 endet, geht dort bis 1955. Und das heutige "Germany" gilt erst ab 1991,
also ab dem folgenden 01.01. nach dem 03.10. des Vorjahres 1990.

Hingegen hat man beim MARC als Ländercode im Feld 008 und im Feld 044 das Kürzel "gw" (= Germany West) beibehalten und heutige Publikationen,
egal aus welchem Teil des heitigen Deutschlands sie kommen, haben "gw" als Ländercode - "ge" (Germany East) ist einfach ab 1990 bzw. 1991 entfallen.
Diese Regelung ist konträr zur Regelung, dass bei der Ansetzung der Körperschaft nur "Germany" verwendet wird, und spiegelt den Umstand wieder,
dass die 1989/1990 auf dem Boden der DDR wiederentstandenen Länder der Bundesrepublik beigetreten sind.
Wenn also die Vergabe des MARC-Ländercodes als Teil der Katalogisierungsregeln betrachtet wird, dann beisst sich hier etwas ein wenig.
Oder stellt sich das nur für meine Augen als ein wenig schräg dar?

Das Ganze wirkt auf mich wie eine Baustelle bei den Regelwerken bzw. Normdateien auf beiden Seiten des Atlantiks,
die noch zu einer interessanten Diskussion führen wird, wenn man denn Normeinträge und deren Anwendung angleichen bzw. vereinheitlichen möchte.

Hier müsste man bei einer Bereinigung konsequent eine der beiden Linien fahren (beiderseits des Atlantiks!), die Entscheidung darüber ist aber keine
primär technische, sondern eine politisch-historische:
1) die (alte) Bundesrepublik Deutschland hat von Beginn unter Adenauer einen Alleinvertretungsanspruch für ganz Deutschland verfolgt.
Auch wenn die Ostpolitik unter Brandt einen Wandel genommen hat, entspricht die Tatsache, dass die DDR der alten Bundesrepublik
durch den Einigungsvertrag beigetreten ist, also eine Kontinuität im Westdeutschen System existiert, durchaus als Bestätigung dieser Sichtweise.
Nach dieser Linie gibt es einen deutschen Staat, unter mit einer Abspaltung (DDR) von diesem bis 1990.
Konsequent wird alles von 1949 an unter "Deutschland" angesetzt, es sei denn, es betrifft nur die DDR.
LoCNA verwendet übrigens für Deutschland vor 1945 und ab 1990(1991) auch nur "Germany".
MARC-Ländercode wäre für Publikationen von 1949 aus Westdeutschland von 1949 bis heute "gw" und für Publikationen aus der DDR "ge".
"gw" würde dann wohl auch für Publikationen von vor 1949 Verwendung finden (wie heute üblich). Oder es gibt einen neuen Ländercode,
der anstelle von "gw" von Gutenberg bis heute Verwendung findet, mit Ausnahme von DDR-Publikationen die "ge" erhalten.
2) die (alte) Bundesrepublik Deutschland wird als "2. deutsche Republik" (nach der "Weimarer" als der 1.) wahrgenommen.
Die Wiedervereinigung von 1990 hat zu einer massgeblichen Änderung geführt: Verlegung der Hauptstadt nach Berlin & grundlegende Änderungen
in der Verfassung (neue Präambel etc.), so dass die heutige Bundesrepublik Deutschland ab 1990 als "3. Republik" angesehen wird.
Konsequent wird alles von 1949 bis 1990 getrennt nach "Deutschland, West" und "Deutschland, Ost". Und: Das Grundgesetz müsste demnach
durch die Änderungen von 1990 wie eine neue Verfassung angesehen werden (Ansetzung Gebietskörperschaft). Die Untergeordneten Körperschaften
sind auch konsequent neue untergeordnete Köperschaften etc.
Als MARC-Ländercode müssten sowohl "gw" als auch "ge" für Publikationen ab 03.10.1990 durch einen neuen abgelöst werden.
Dieser neue "neutrale" Ländercode, der nicht "gw" oder "ge" ist, wäre für Publikation bis 1945 oder 1949 und ab 1990 anzuwenden.

Die Verfolgung einer der beiden Linien wäre konsequent, und würde für den Dschungel, wie er derzeit auf mich wirkt, eine Klärung bringen.
Analog für Deutschland gilt das dann auch für die geteilte Stadt Berlin (nur dass die keinen eigenen MARC-Code hat, es sei denn,
man möchte bei Der Deutschen Bibliothek auch für die einzelnen Bundesländer einen einführen, wie es in den USA für die einzelnen Staaten üblich ist.
Da haben wir dann aber einiges uns zu überlegen..., auch was die "alten Länder" vor 1945 betrifft - Frankfurt und Hannover etc. bis 1866,
oder gar das gesamte deutsche Staatsgebilde vor Napoleon).

Das sind meine Gedanken, die mir zu diesem Thema kommen und wogegen die Frage "Winkelklammer ja oder nein" eine Kleinigkeit ist
und die hier angesprochene "Vereinigung von Berlin", was die historische Korrektheit angeht, eine komplexe politisch-historische Frage darstellt.
Vielleicht bin ich damit ein wenig zu abschweifend, aber es mag evt. doch eine Überlegung wert gewesen sein.
Denn: Wir stellen mit diesen Sachen (Ansetzungen, Ländercodes etc.) Geschichte dar und Geschichte ist interpretierbar.
Ganz besonders bei der deutschen Frage.

Mit freundlichen Grüssen aus Bern
Bernd Martin Rohde
__________

Bernd Martin Rohde, Dipl.-Bibl. (FH)
Sportweg 15, CH 3097 Liebefeld
Tel.: (+41) (0)31 9719674, mailto:b.m.rohde at gmx.net
(dienstl.: Tel.: (+41) (0)31 3203313, mailto:bernd.rohde at stub.unibe.ch)



> -----Ursprüngliche Nachricht-----
> Von: rak-list-bounces at lists.ddb.de
> [mailto:rak-list-bounces at lists.ddb.de]Im Auftrag von Angela Rinschen
> Gesendet: Mittwoch, 8. Februar 2006 10:34
> An: rak-list at lists.ddb.de
> Betreff: [rak-list] Winkelklammer und Berlin-Frage
> 
> 
> Liebe RAK-List,
> 
> hier eine Anfrage aus der täglichen Katalogisierungspraxis 
> (hoffentlich nicht zu profan):
> 
> Seit Dezember 2004 haben wir ein Problem mit den Ansetzungen 
> von Körperschaften mit Landesverbänden in der GKD.
> Es handelt sich hierbei um Landesverbände u.Ä., die in ihrem 
> offiziellen Namen Städte enthalten, die mit den Namen von 
> Stadtstaaten identisch sind, also Berlin, Hamburg, Bremen, 
> Oldenburg, Wien, etc. 
> Diese Städte/Stadtstaaten wurden früher als Ordnungshilfe in 
> <Winkelklammern> gesetzt, seit Dezember 2004 sollen laut 
> Beschluss der GKD-Expertengruppe (gefasst auf der 3.Sitzung 
> im Dezember 2002 (!) TOP 10.1) die Winkelklammern entfernt 
> und die Körperschaftsnamen durchgeschrieben werden, also z.B.
> 
> Sozialdemokratische Partei Deutschlands / Landesorganisation Bremen
> 
> Zudem steht in der Anlage zu diesem Beschluss, dass 
> gegenteilige Ansetzungen ggf. korrigiert werden und 
> Titelsplitts (Berlin / Berlin, West / Berlin, Ost) zu einem 
> Datensatz vereinigt werden sollen.
> Also, statt
> Sozialdemokratische Partei Deutschlands / Landesverband <Berlin, West>
> 
> Sozialdemokratische Partei Deutschlands / Landesverband Berlin ??
> 
> Hier beginnen unsere Schwierigkeiten.
> Zunächst einmal haben wir ein grundsätzliches Problem damit, 
> dass dieser Beschluss der Expertengruppe unseres Wissens nach 
> immer noch nicht offiziell veröffentlicht und somit nicht 
> "gültig" für alle ist.
> In der GKD/ZDB wird er jedoch schon angewendet.
> 
> Aufgrund unseres Sammelgebiets (Parteien und Gewerkschaften) 
> haben wir eine Vielzahl von Landesverbänden sowie Kreis- und 
> Bezirksverbänden (bei denen analog verfahren werden soll) und 
> aufgrund unseres Katalogisierungsprogramms (Allegro C) müssen 
> wir Änderungen in der Ansetzungsform per Hand einzeln in 
> allen Datensätzen der "dranhängenden" Monographien nachvollziehen. 
> Natürlich wollen wir keine "falschen" Ansetzungen stehen 
> lassen, anderseits wollen wir auf keinen Fall in Hunderten 
> von Datensätzen Korrekturen durchführen, die dann einige Zeit 
> später eventuell erneut geändert werden müssen, weil ein 
> anderer Beschluss gefasst wird.
> Zudem erscheint uns die nachträgliche Vereinigung von Berlin 
> <West> und Berlin <Ost> historisch eindeutig falsch und auch 
> nach RAK-WB (§ 421) problematisch.
> 
> Somit nun endlich unsere Fragen:
> 
> 1) Ist dieser Beschluss der GKD-Expertengruppe allgemein bekannt?
> 2) Ist die Vorgehensweise so haltbar, daß ohne ausreichende 
> Bekanntmachung/Veröffentlichung Änderungen in der GKD 
> ausgeführt werden und somit Bibliotheken auf für sie 
> "rätselhafte" Ansetzungen stoßen?
> 3) Gibt es noch andere Bibliotheken, die ein Problem damit 
> haben, daß sie nun teilweise unterschiedliche Ansetzungen 
> haben, da die Zeitschriften über die ZDB geänderte 
> Ansetzungen haben aber die Monographien leider noch unter 
> "alten" Ansetzungen stehen?
> Wie gehen Sie damit um?
> 
> Mit freundlichen Grüßen aus Bonn
> 
> Annette Euskirchen und Angela Rinschen
> 
> 
> 
> Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung
> Godesberger Allee 149, 53170 Bonn
> Tel.: 0228/883-556
> Fax: 0228/883-626
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