[rak-list] Individualisierung

Martin Tutsch tutschx at uni-muenster.de
Fri Jan 18 15:44:03 CET 2002


Der Beitrag von Thomas Berger ist ein schönes Beispiel dafür, wie wenig
die derzeitige Diskussion noch mit der Realität zu tun hat. Hier wird
schlicht ignoriert, daß die größte Zahl der im Tagesgeschäft
anzusetzenden Namensansetzungen problemlos ohne Feststellung der
Identität der Person vorgenommen werden kann. Der Fall Buonarotti ist
eine absolute Ausnahme! Eine generelle Individualisierung würde jedoch
alle Namensansetzungen enorm erschweren, weil nicht nur bei jedem neu
anzusetzenden Namen, sondern auch bei der Zuordnung neuer Titelsätze zu
vorhandenen Personennamensätzen Überlegungen und Ermittlungen nötig
werden. Deswegen wird sie auch da, wo sie pro forma praktiziert wird, de
facto unterlaufen, im HBZ-Verbund z.B. durch die Regelung, daß aktive
Individualisierung nur dort vorgenommen werden soll, wo entsprechende
Angaben der Vorlage entnommen werden können. Ein fauler Kompromiß, weil
es den Sinn der Individualisierung zunichte macht, wenn nur diejenigen
Medien, in denen die Verfasser freundlicherweise etwas zu ihrer Person
mitteilen, den individualisierten Ansetzungsformen zugeordnet werden,
während alle anderen - und das ist die Mehrzahl - unter
Sammelansetzungen vereinigt werden (eigentlich müßte man für diese
übrigen noch eine Ordnungshilfe <Sonstige> einführen).
Hat man sich eigentlich überlegt, wem die Individualisierung nützen
soll? Suchen unsere Benutzer tatsächlich Personen oder nicht eher
Bücher? Ist es den allermeisten nicht egal, wann der Verfasser ihres
Strafrechtskommentars geboren oder gestorben ist? Gewiß gibt es auch
Benutzer, die von einem Katalog mehr erwarten. Lohnt es sich aber, für
diese Minderheit einen derartigen katalogisierungstechnischen Aufwand zu
treiben?
Alle Verfasser eindeutig auseinanderzuhalten ist ein utopisches
Unterfangen, an dem zuletzt der Deutsche Gesamtkatalog gescheitert ist.
Diese traumatische Erfahrung hat wenigstens insofern ihr Gutes gehabt,
als sich deutsche Katalogisierer in den letzten 50 Jahren bescheidenere
Ziele gesteckt  haben: den Nachweis der Bestände mit wirtschaftlich
vertretbarem Aufwand. Dieses Augenmaß droht in der letzten Zeit im
Globalisierungstaumel unterzugehen. Es ist ausgesprochen
kontraproduktiv, die Diskussion mit dem Etikett "politische
Entscheidung" zu belegen, vor der "Insel" und dem "deutschen Sonderweg"
zu warnen und damit den Boden der rationalen Diskussion über die
Folgelasten eines erneuten Regelwerkbruchs zu verlassen. Ich vermisse
konkrete Aussagen darüber, welchen zusätzlichen Aufwand eine
ernstzunehmende Personenindividualisierung verursacht. In einer Zeit, in
der das Geld kaum für die nötigsten Arbeiten reicht, täglich Stellen
gestrichen werden und die retrospektive Katalogisierung sowie der
elektronische Nachweis der Institutsbestände noch längst nicht
abgeschlossen sind, wäre es ausgesprochen unverantwortlich, den
Bibliotheken zusätzliche Arbeit aufzubürden, deren Notwendigkeit
zumindest zweifelhaft ist.

Mit freundlichen Grüßen,

Martin Tutsch






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