[rak-list] Kostenguenstige Alternative zu RDA

Bernhard Eversberg ev at biblio.tu-bs.de
Mon Jul 4 08:43:46 CEST 2011


Am Freitag, kurz vor einem langen Wochenende (heute ist Independence
Day) hat J. McRee Elrod, genannt "Mac", ein "RDA-Gegenmittel"
herausgebracht: MRI, das man unter dieser Adresse beziehen kann:
(nach kostenloser Registrierung)

   http://special-cataloguing.com/mris/

Kurz zu den beteiligten Personen:
Mac ist ein Dienstleister, der Katalogisierung für Spezialbibliotheken
anbietet, und das mit Erfolg seit Jahrzehnten. Er kennt die Wünsche
seiner Kunden ganz genau, aber auch den Bedarf der Katalognutzer.
Mit erschöpfendem Detailwissen sowie Augenmaß für die
Wirtschaftlichkeit erteilt er unermüdlich Rat in der Liste AUTOCAT
und begleitet die Diskussionen in der RDA-LIST seit Anbeginn mit
stets fundierten Äußerungen, nie von dem Teppich des Machbaren und
Sinnvollen abhebend. Ein Praktiker und Pragmatiker hohen Kalibers.
Berühmt sind seine "Spickzettel" (cheat sheets); nirgends sonst kann
man kostenfrei so schnell so viel lernen über die wahre Praxis mit
AACR und MARC:
   http://special-cataloguing.com/cheats

Michael Gorman ist der überragende Theoretiker, der "alte Mann" der
AACR - er war federführender Formulierer und Herausgeber der AACR2.
Seit langem begleitet er die RDA-Entwicklung mit schonungslosen
Kommentaren, mit Schärfe nicht immer sparsam, doch letztlich
wirkungslos, d.h. ohne Reaktion von seiten der RDA-Protagonisten.

Die zwei sind lange schon befreundet und waren sich längst
darin einig, daß es keine große Reform bräuchte, sondern eine
Aktualisierung der AACR2 vollauf genügen und praktisch auch nichts
anderes machbar sein würde, wenn man eine Spaltung und andere
gravierende Probleme vermeiden will. Genau dies haben sie dann
gemeinsam in die Tat umgesetzt. Das "M" in MRI steht für Mac und
für Michael, "RI" für Rule Interpretations und spielt an auf die
LCRI, die seit Jahrzehnten von der LC herausgebrachten
Regelauslegungen und -präzisierungen, die jeder AACR-Anwender
griffbereit hat und die online frei zugänglich sind:

http://www.itsmarc.com/crs/LCRI0000.htm
   oder auch hier, neben anderen Materialien:
http://sites.google.com/site/opencatalogingrules/cataloging-ru

Die MRI werden als Dateien bereitgestellt, die sich jeder leicht
auf amerikanisch gelochtem Papier ausdrucken und in die AACR-
Loseblattausgabe zu den betreffenden Regeln einordnen kann.

Die Begründung beginnt mit diesen Sätzen:
"Nach Überzeugung der Autoren ist es möglich und wichtig, die Vorteile
der leichten Verständlichkeit und logischen Anordnung der AACR zu
bewahren, wie auch die Einfachheit und Vertrautheit des Sprach-
gebrauchs, die enge Anlehnung an die ISBDs und solch nützliche
Grundsätze wie z.B. die Begründung von Nebeneinträgen im Text
der bibliographischen Beschreibung.
Deshalb hat Michael Gorman mit Unterstützung durch J. McRee Elrod
nun die MRIs erarbeitet, um die weitere Verwendbarkeit der AACR
sicherzustellen und doch zugleich die Datensätze mit beschreibenden
Elementen und Ansetzungen versehen zu können, die kompatibel
sind mit den RDA."


Nun mag man entgegnen, daß RDA ein moderneres, ein zeitgemäßes
Denkmodell (FRBR) verfolgt und in seiner Logik und Struktur besser
auf heutige Datenbank-Paradigmen paßt, AACR dagegen im Zetteldenken
verwurzelt ist, woran MRI nicht wirklich etwas ändert.
Blickt man aber auf die Testdaten, und damit auf das Bild, das
sich in der RDA-Praxis dann bieten würde, wird erkennbar, daß von
dem hehren Anspruch der RDA wenig übrigbleibt: man kommt über
das Scenario 3 ("flache" Datenstruktur ohne Verknüpfungen) nicht
hinaus. Die LC hat das auch bemerkt und in ihrem Testreport mit aller
Deutlichkeit eine "Los von MARC"-Bewegung propagiert, bevor
man mit der Implementierung beginnen könne. Ganz neue Töne also,
doch dafür ist der Termin 1.1.2013 wohl kaum realistisch. Die Chancen
stehen daher gut, daß MRI zu einem Erfolgsmodell werden kann. Vorteile:
-- sofort einsetzbar
-- billig
-- Inkonsistenz der Daten wird vermieden
-- Umstellungs- und Fortbildungsaufwand minimal

Kurzum: RDA steht mit einemmal auf wackligen Füßen, vor allem wegen der
Kosten-Nutzen-Problematik (im Report erstmalig auch von der LC
anerkannt und unter "business case" angesprochen, ohne eine Lösung
zu sehen). Aber auch in der Sache selbst: wozu der Aufwand für ein ganz
neues Regelwerk, wenn man de facto weitgehend dasselbe mit einer
schlichten Aktualisierung des alten erreichen kann? Die RDA-
Protagonisten werden nun noch deutlich mehr tun müssen als das, was LC
im Testbericht fordert: Man wird eine überzeugende Darstellung der
Wirtschaftlichkeit liefern müssen ("business case for RDA"), und die
MARC-Bindung muß wirklich überwunden werden, indem man einen neuen,
besseren Weg und einen Migrationspfad dorthin aufzeigt. Ferner wird man
sich klar auf eine Tendenz hin zum Scenario 1 festlegen müssen und die
Testdaten damit für obsolet zu erklären. Nur so käme man hinreichend
klar über MRI hinaus. Gelingt das alles, wäre es mit ein Verdienst der 
MRI-Initiative.

Die voraussichtlich positive Rezeption, die MRI im Anglo-Land erleben
mag, ist freilich kein Präjudiz für uns, denn unsere Situation ist
deutlich anders, allein schon weil wir bisher ja nicht nach AACR
katalogisieren.

ABER:
Haben wir nicht längst etwas den MRI in der Zielsetzung ganz ähnliches,
und zwar in den Verbundregeln? Wäre es nicht der einfachste Weg für
uns, diese zwischen den Verbünden zu harmonisieren und weiter
anzureichern? Hier findet man sie alle:

http://www.gbv.de/wikis/cls/Katalogisierungsregelwerke_von_Bibliotheksverb%C3%BCnden

Sind es nicht längst diese online und direkt bei der Dateneingabe
verfügbaren Ressourcen, die immer zuerst konsultiert werden, und nur
in seltenen Fällen greift man noch zum Regelwerk? Hat dieses nicht
eigentlich nur noch eine Bedeutung für die Theorie und die Lehre?
Und würde sich das mit RDA ändern, zumal diese ohne umfängliche
Ausführungsbestimmungen, weit mehr als RAK-WB, gar nicht einsetzbar
wären?

In unserer Praxis und in unserem Datenbestand haben wir längst
alles, was im Anglo-Land noch Zukunftsmusik ist: Wir haben
ein nah am Szenario 1 liegendes Datenmodell mit Verknüpfungen
und keine enge Bindung an MARC, welches bei uns nie die Sprache
der Katalogisierung gewesen ist sondern nur Medium des Austauschs,
womit ein großes Umlernen auf diesem Gebiet nicht ansteht. Mit RDA
ändert sich somit nur der theoretische Überbau, die tatsächlich
im Alltag verwendeten Verbundregeln ändern sich allenfalls marginal.
Dazu braucht's eigentlich auch keine RDA-Übersetzung und schon
gar keine flächendeckende Versorgung mit Zugriffsrechten auf
einen monopolisierten Text, der jetzt erst nochmal neu zu schreiben
sein wird. Frau Wiesenmüller hat schon hinreichend gut den
theoretischen Überbau in verständlichem Deutsch dargestellt, mehr
brauchen wir in der Hinsicht nicht. Was jetzt nottut ist Augenmaß
für das wirklich Machbare und Wesentliche und Ausgestaltung der
Kataloge mit mehr Anreicherung und Konnektivität im Netz (Stichwort
"linked data"), worüber in RDA nichts steht.


B.Eversberg